189 - Die Regenbogenschlange
sollte die Ebene liegen, in deren Zentrum sich ein gewaltiger Felsen erhob, um den sich viele Mythen rankten. Das Ziel der Reise war nahe.
Doch zuerst musste sie dieses Kind nach Hause bringen, auch wenn alles in ihr danach drängte, einfach weiterzugehen.
Aber Aruula war der Ansicht, dass es bei so einer langen Reise nicht auf einen Tag ankam. Und sie würde ganz gewiss nicht ein Kind der Wildnis überlassen. Es könnte ihr eigenes Kind sein. Sie hatte es nie geboren, es war ihr auf bizarre Weise aus dem Leib gestohlen worden, und es war abwegig anzunehmen, dass es trotzdem überlebensfähig herangereift war. Auf eine unerklärliche Weise wusste Aruula aber, dass ihr Kind noch lebte und dass sie es eines Tages finden würde. Und dieses Gefühl war stärker als jeder fremde Zwang in ihrem Inneren.
Das Mädchen war sehr still. Es äußerte kein Verlangen, dass es hungrig oder müde wäre; teilnahmslos ließ es sich tragen, oder es stapfte gleichmäßig neben Aruula dahin. Die Barbarin fragte sich, wie es sich so weit von seinem Stamm entfernen konnte; wieso überhaupt ein so kleines Kind allein durch die Steppe lief.
Das Land war hier erstaunlich grün, mit Büschelgras und stachligen Büschen auf sandigem Boden. In den in Gruppen stehenden, großen Bäumen lärmten Hunderte kleiner gelbgrüner Vögel. Aruula empfand dies im Vergleich zu den Wochen der Stille und Dürre beinahe schon als bizarr. Hier brauchte sie sich keine Gedanken mehr zu machen, wie sie ihren Wasserbeutel wieder füllen konnte.
Plötzlich wurde das Mädchen auf ihrem Arm unruhig, und sie setzte es ab. Das Kind erwachte ganz plötzlich zum Leben und lief voraus. Es schien genau zu wissen, wohin es ging.
Aruula folgte ihm auf einige Schritte Abstand. Und es war tatsächlich nicht mehr weit.
Im Schatten der Felsen, am Rand eines Wasserlochs, verteilten sich einige armselige Hütten aus Flechtwerk. Es war sehr ruhig, obwohl sich gut zwanzig Frauen und Kinder und einige wenige, zumeist ältere Männer hier aufhielten. Die meisten saßen nur dumpf herum, einige wenige beschäftigten sich handwerklich. Besonders auffällig war, dass alle Erwachsenen völlig haarlos waren. Sie besaßen nicht einmal mehr Augenbrauen.
Das Kind lief auf eine der Frauen am Rand der Siedlung zu, die es auf den Arm nahm. Während Aruula auf sie zuging, erhoben sich die Anangu und näherten sich ihr von allen Seiten.
»Ich bringe dir dein Kind zurück«, sagte Aruula langsam und gestenreich. Sie ließ sich nicht anmerken, wie sehr sie diese seltsamen Menschen beunruhigten. Sie hatte schon einige merkwürdige und vor allem gefährliche Begegnungen gehabt, seit sie den Fuß auf diesen Kontinent gesetzt hatte, aber so etwas wie dies hier…
Selbst die Hitze des Tages schien hier keine Macht zu haben. Dieser Ort war kühl und… leblos. Sie konnte nicht einmal den Hauch einer Emotion spüren. Menschen wie diesen war Aruula auf all ihren Reisen noch nie begegnet; und das stellte sie schon nach diesen ersten kurzen Augenblicken fest, die sie hier war. Es fröstelte sie, und sie hatte ein trockenes Gefühl im Mund.
Zu ihrem Eindruck passte auch, dass die Mutter ihr Kind nicht überglücklich in die Arme geschlossen hatte, sondern relativ gleichgültig. Und auch das Kind, obwohl es froh schien, wieder zu Hause zu sein, verhielt sich wieder ruhig, nahezu lethargisch.
Die Frau sagte etwas, das für Aruula schwer verständlich war. Eine Mischung aus Englisch und irgendeinem Anangu-Dialekt. Aber sie befand sich inzwischen lange genug in diesem Land und hatte auf ihren Reisen schon so viele Sprachen gelernt, dass sie sich schnell hineinfand und den Sinn erkennen konnte.
»Ich danke dir, weiße Frau.« Nicht wörtlich, aber sinngemäß.
Das Kind sagte etwas, schnell, fast zischend, und seine Zunge bewegte sich auf seltsame Weise dabei.
»Gefahr? Große… Gefahr?«, fragte die Frau zögernd.
»Ja«, antwortete Aruula und beschrieb mit Gesten und einfachen Worten die beiden Raubtiere, die das Mädchen verfolgt hatten. Die Anangu um sie herum hörten aufmerksam zu. Aruula hätte gern gefragt, was ein kleines Kind allein da draußen im Busch zu suchen hatte, aber dafür war die Sprachbarriere zu groß – und außerdem musste sie vorsichtig sein. Sie war an diesem Ort, auch wenn sie als Lebensretterin auftrat, lediglich geduldet, aber keineswegs erwünscht. Die Stimmung konnte schnell umschlagen.
Aber sie wollte sich ohnehin nicht lange aufhalten; es zog sie weiter, nachdem sie
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