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den letzten siebzehn Jahren mit ihrem Mandanten irgendwie Kontakt gehabt hatte. Zwei Tage nach Peters Anklageverlesung vor dem Kammergericht suchte Selena den Schulleiter der Sterling High in seinem Büro in der Grundschule auf. Arthur McAllister hatte einen Bauchansatz, einen rotblonden Bart und Zähne, die nicht zu sehen waren, wenn er lächelte. Sie fragte ihn, welche Maßnahmen die Schule zum Schutz gegen Schikanen durch Mitschüler ergriff. »Wir dulden keinerlei Schikanen«, sagte McAllister. »Wir haben das Problem vollkommen im Griff.«
»Mit welchen Konsequenzen muss denn ein Schüler rechnen, wenn er andere schikaniert?«
»Nun, Selena - ich darf Sie doch hoffentlich Selena nennen? -unserer Erfahrung nach verschlimmert sich die Situation des schikanierten Kindes noch, wenn die Schulleitung sich einschaltet.« Er zögerte. »Ich weiß, was die Leute über den Amoklauf sagen. Sie vergleichen ihn mit Columbine und West Paducah und Jonesboro. Aber ich bin überzeugt, dass Peter nicht unmittelbar durch die Schikanen anderer Schüler zu seiner Tat getrieben wurde.«
»Seiner mutmaßlichen Tat«, verbesserte Selena ihn reflexartig. »Ist Ihnen je gemeldet worden, dass Peter Houghton schikaniert wurde?«
McAllister stand auf und holte eine Akte aus einem Schrank. »Tatsache ist, dass Peter in diesem Jahr zweimal zu mir gebracht wurde, weil er sich auf dem Flur geprügelt hatte.«
»Geprügelt«, sagte Selena, »oder gewehrt?«
Als Katie Riccobono ihrem schlafenden Mann ein Messer in die Brust stieß - sechsundvierzigmal hatte Jordan sich an Dr. King Wah gewendet, einen forensischen Psychiater, der sich auf das Misshandlungssyndrom bei geschlagenen Frauen spezialisiert hatte. Diese besondere Variante der posttraumatischen Belastungsstörung definierte sich dadurch, dass eine Frau, die wiederholt psychisch und physisch gequält worden war, unter Umständen in ständiger Todesangst lebte, bis für sie irgendwann die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit verschwamm und sie sich sogar dann noch bedroht fühlte, wenn die Bedrohung selbst nicht akut war, zum Beispiel wie im Fall von Joe Riccobono, der nach einem dreitägigen Besäufnis seinen Rausch ausschlief.
Dank King Wah hatten sie den Prozess gewonnen. In den Jahren danach war er einer der bekanntesten Experten für das Misshandlungssyndrom geworden und wurde immer wieder von Verteidigern im ganzen Land als Sachverständiger verpflichtet. Er war heiß begehrt, und seine Honorarforderungen waren entsprechend sprunghaft angestiegen.
Jordan hatte keinen Termin, als er Kings Büro in Boston betrat, aber er hoffte, sich an der Vorzimmersekretärin vorbeischmeicheln zu können. Allerdings hatte er nicht mit Ruth gerechnet, einem resoluten Drachen kurz vor der Rente. »Dr. Wah ist die nächsten sechs Monate ausgebucht«, sagte sie unerbittlich.
»Aber es handelt sich um eine private Angelegenheit.«
»Wie interessant«, sagte Ruth ironisch.
Jordan ahnte, dass es ihn nicht weiterbringen würde, wenn er Ruth ein Kompliment machte oder ihr einen Witz erzählte. »Es geht um eine dringende Familienangelegenheit, einen Notfall«, beteuerte er.
»In Ihrer Familie gibt es einen psychologischen Notfall«, entgegnete Ruth gelangweilt.
»In unserer Familie«, improvisierte Jordan. »Ich bin Dr. Wahs Bruder.« Als Ruth ihn ausdruckslos anstarrte, fügte er hinzu: »Dr. Wahs Adoptivbruder.«
Sie hob eine gezupfte Augenbraue und griff zum Telefonhörer. »Dr. Wah«, sagte sie. »Hier möchte Sie jemand sprechen, der behauptet, er sei ihr Bruder.« Sie legte auf. »Sie möchten reinkommen.«
Jordan öffnete die schwere Mahagonitür. King hatte die Füße auf den Schreibtisch gelegt und aß ein Sandwich. »Jordan McAfee«, sagte er lächelnd. »Hätte ich mir denken können. Also ... wie geht's Mom?«
»Wie soll ich das wissen, ich war ja nie ihr kleiner Liebling«, witzelte Jordan und schüttelte Wah die Hand. »Danke, dass Sie sich Zeit für mich nehmen.«
»Ich musste doch sehen, wer die Chuzpe hat, sich als mein Bruder auszugeben.«
Er bedeutete Jordan, Platz zu nehmen. »Also, wie geht es Ihnen?«
»Gut«, sagte Jordan. »Wenn auch vielleicht nicht so gut wie Ihnen. Es gibt ja kaum einen Prozess mehr, in dem Sie nicht auftreten.«
»Ich habe viel zu tun, stimmt. Und ehrlich gesagt, ich hab auch jetzt nur zehn Minuten Zeit bis zum nächsten Termin.«
»Ich weiß. Deshalb bin auch ohne Termin gekommen. Ich möchte, dass Sie für mich ein psychologisches
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