19 Minuten
lassen«, sagte Selena. »Oder du wartest ab, bis Diana das für dich übernimmt.«
Jordan sah sie an.
»An deiner Stelle würde ich jedenfalls schön den Mund halten.«
Er streckte den Arm aus und zog am Gürtel ihres Morgenmantels. »Wann hab ich je den Mund gehalten?«
Selena lachte. »Es gibt für alles ein erstes Mal.«
In jedem Flügel des Hochsicherheitstraktes waren vier Zellen, ein Meter achtzig mal zwei Meter fünfzig. Jede Zelle war mit einem Etagenbett und einer Toilette ausgestattet. Am Zellen-gitter patrouillierten die Wärter entlang.
Während der einen Stunde Freigang im Hof war Peter zu Anfang ein paarmal rausgegangen, aber nicht um Basketball zu spielen oder zu joggen oder hinten am Zaun heimlich Drogen oder Zigaretten zu kaufen, sondern um einfach nur Luft zu atmen, die nicht vorher schon von anderen Häftlingen eingeatmet worden war. Leider konnte man vom Hof aus den Fluss sehen. Man hätte meinen können, das wäre ein Pluspunkt, dabei weckte es nur unstillbare Sehnsüchte. Je nachdem, wie der Wind stand, konnte Peter den Fluss manchmal sogar riechen - die leuchte Ufererde, das eiskalte Wasser - und er hielt es kaum aus, dass er nicht einfach dorthin gehen, Schuhe und Socken ausziehen und hineinwaten konnte, schwimmen oder sich verdammt noch mal ertränken, wenn er wollte. Deshalb ging er inzwischen überhaupt nicht mehr raus.
Peter hatte hundert Sit-ups absolviert. Sport war nicht seine Sache, aber er wollte nicht schwabbelig und dann von den anderen verlacht werden. Es war schon irre, aber nach nur einem Monat war er stärker als früher, und wahrscheinlich hätte er es jetzt mit Matt Royston und Drew Girard aufnehmen können. Er setzte sich aufs Bett, um seinen Bestellzettel für den Gefängnisladen auszufüllen. Einmal im Monat konnte man dort für sündhaft teures Geld Sachen wie Mundwasser oder Papier kaufen.
»Houghton«, sagte ein Wärter, dessen schwere Stiefel den Metallboden scheppern ließen, »Post für dich.«
Zwei Briefe wurden in die Zelle geschoben und rutschten unters Bett. Als er sie aufhob, riss er sich die Fingernägel am Betonboden ein. Wie er schon fast erwartet hatte, war der erste Brief von seiner Mutter. Peter bekam drei- bis viermal die Woche Post von ihr. Meistens schrieb sie belangloses Zeug, zum Beispiel wie gut ihre Grünlilien gediehen. Eine Zeit lang hatte er gedacht, sie würde womöglich einen Code benutzen, um ihm etwas mitzuteilen, das er wissen müsste, etwas Transzendentes und Inspirierendes - doch dann wurde ihm klar, dass sie bloß schrieb, um die Seiten zu füllen. Seitdem öffnete er die Briefe seiner Mutter nicht mehr. Sie schrieb ihm ja gar nicht, damit er die Briefe las, sondern damit sie sie ihm geschrieben hatte.
Peter ließ den Brief seiner Mutter wieder zu Boden fallen und las den Absender auf dem zweiten Umschlag. Elena Battista, stand da, Ridgewood, New Jersey.
Neugierig riss er das Kuvert auf und las den Brief.
Peter,
irgendwie hab ich das Gefühl, Dich schon zu kennen, von der ganzen Berichterstattung im Fernsehen. Ich gehe inzwischen aufs College, aber ich glaube zu wissen, wie die Highschool für Dich gewesen sein muss ... weil sie für mich genauso war. Zurzeit schreibe ich sogar meine Examensarbeit über die psychischen Auswirkungen von Schikanen in der Schule. Ich weiß, es ist vermessen, Dich zu fragen, ob Du vielleicht mal mit mir reden würdest... aber ich denke, wenn ich auf der Highschool jemanden wie Dich gekannt hätte, wäre mein Leben anders verlaufen, und vielleicht ist es ja nie zu spät?
Mit herzlichem Gruß Elena Battista
Peter klopfte sich mit dem leerem Umschlag auf den Oberschenkel. Jordan hatte ihm eingeschärft, mit niemandem sonst zu reden, außer mit seinen Eltern. Aber seine Eltern waren nutzlos, und Jordan hatte schließlich seinen Teil der Abmachung bisher ,iuch nicht erfüllt, nämlich oft genug zu kommen, damit Peter sich die Dinge von der Seele reden konnte, die ihm zu schaffen machten.
Und überhaupt. Sie war Studentin. Irgendwie gefiel ihm die Vorstellung, dass eine Studentin mit ihm reden wollte. Und er würde ihr ja auch nichts erzählten, was sie nicht schon längst wusste.
Peter nahm den Bestellzettel erneut und schrieb eine i in das Kästchen für Grußkarten.
Ein Prozess konnte in zwei Hälften unterteilt werden: Die Anklagevertretung legte dar, was am Tag der Tat geschehen war. Und die Verteidigung musste darlegen, wie es dazu gekommen war. Zu diesem Zweck befragte Selena jeden, der in
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