19 Minuten
Josie verletzt worden wäre? Und dann fiel ihr ein, was sie Wochen zuvor dem Exekutivrat geantwortet hatte. Wer hat das Recht, über einen anderen Menschen zu urteilen?
Niemand, hatte sie gesagt.
Und doch tat sie es gerade.
Ich befürworte das Recht auf den Besitz von Schusswaffen, hatte sie geantwortet.
War sie eine Heuchlerin? Oder verhielt sie sich nur wie eine gute Mutter?
Alex sah, wie Lacy vor ihrem Sohn in die Knie ging, da überkam sie auf einmal dieses starke Gefühl: Josies unerschütterliche Treue gegenüber Peter wirkte plötzlich wie ein Gewicht, das sie nach unten zog. Vielleicht war es besser für Josie, wenn sie sich andere Freunde suchte. Freunde, deretwegen sie nicht zur Schulleitung zitiert wurde. Und die ihr keine Gewehre in die Hand legten.
Alex zog Josie an sich. »Ich glaube, wir sollten gehen.«
»Ja«, pflichtete Lacy mit kühler Stimme bei. »Das glaube ich auch.«
Sie waren im Supermarkt an den Tiefkühlschränken, als Josie einen Koller kriegte. Seit dem Fiasko bei Lacy vor einer Woche passierte das ständig.
»Ich will Tofupute.«
Alex zog eine Augenbraue hoch. »Woher kennst du das denn?«
»Hat Lacy für uns zum Mittagessen gemacht. Das schmeckt wie Hotdogs, ist aber besser für uns.«
Alex trat an die Fleischtheke. »Ein halbes Pfund Hähnchenbrust, bitte.«
»Immer kaufen wir das, was du willst, nie was ich will.«
»Glaub mir, so schlecht geht's dir gar nicht.«
»Ich will einen Keks«, verkündete Josie.
Alex seufzte. »Und ich möchte jetzt kein Ich-will mehr hören.«
Josie, die im Kindersitz des Einkaufswagens saß, trat ihr unvermittelt in den Rücken. »Du bist gemein!«, schrie sie. »Du bist die gemeinste Mutter auf der Welt!«
Alex spürte verlegen die Blicke der anderen Leute. Wieso mussten Kinder immer ausgerechnet an öffentlichen Orten Theater machen? »Josie«, sagte sie und lächelte gepresst, »sei leise.«
»Peters Mutter ist viel lieber als du! Ich wünschte, ich könnte bei Peter wohnen.«
Alex fasste ihre Tochter so fest an den Schultern, dass sie in Tränen ausbrach. »Jetzt hör mal gut zu«, sagte sie zornig, und dann nahm sie ein fernes Tuscheln wahr und das Wort Richterin.
Sie ließ Josie los. »Ich weiß, du bist müde«, sagte Alex, so laut, dass alle es hören konnten. »Ich weiß, du willst nach Hause. Aber du musst dich benehmen, wenn wir draußen unterwegs sind.«
Josie blinzelte sie durch ihre Tränen an, als sei sie ein außerirdisches Wesen.
Eine Richterin, so wurde Alex klar, ist nicht nur im Gerichtssaal Richterin, sondern überall dort, wo sie sich aufhielt. Alex hatte den Mantel angezogen, der ihr gereicht worden war, ohne zu ahnen, dass sie ihn niemals würde ausziehen dürfen.
Alex erster Gerichtstag war in Keene, und sie hatte panisches Lampenfieber. Sie zog sich dreimal um, obwohl niemand sehen würde, was sie unter der Robe anhatte. Ehe sie zum Gericht fuhr, musste sie sich zweimal übergeben.
Sie kannte den Weg zu ihrem Gerichtssaal - schließlich hatte sie schon in zig Verhandlungen auf der anderen Seite der Richterbank gestanden. Der Sekretär war ein dünner Mann namens Ishmael, der sich Alex gegenüber nie sonderlich freundlich verhalten hatte. Heute jedoch sank er ihr förmlich zu Füßen. »Willkommen, Euer Ehren«, sagte er. »Hier ist Ihre Prozessliste. Ich bringe Sie in Ihr Büro, und wir sagen Ihnen Bescheid, wenn wir so weit sind. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
»Nein«, sagte Alex. »Ich bin wunschlos glücklich.«
In ihrem Büro, in dem es eiskalt war, ließ er sie allein. Sie drehte die Heizung hoch und zog ihre Robe über, musterte sich dann im angrenzenden Badezimmer im Spiegel. Sie sah unparteiisch aus. Gebieterisch.
Und vielleicht ein bisschen wie ein Chormädchen.
Alex setzte sich an den Schreibtisch und musste sogleich an ihren Vater denken. Was sagst du jetzt, Daddy, dachte sie, obwohl er an einem Ort war, an dem er sie nicht hören konnte. Sie konnte sich an so viele Prozesse unter seinem Vorsitz erinnern, und wie er ihr immer abends beim Essen davon erzählt hatte. An etwas konnte sie sich jedoch nicht erinnern: Augenblicke, in denen er kein Richter, sondern nur ihr Vater war.
Alex überflog die Akten, die sie für die bevorstehende Anklageverlesung brauchte. Dann sah sie auf die Uhr. Sie hatte noch fünfundvierzig Minuten bis Sitzungsbeginn. Vor lauter Nervosität war sie viel zu früh gekommen. Sie stand auf, streckte sich. Sie könnte in dem Raum Rad schlagen, so groß war
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