Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
19 Minuten

19 Minuten

Titel: 19 Minuten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
Vom Netzwerk:
er.
    Aber so etwas taten Richterinnen nicht.
    Stattdessen ging sie in den Aufenthaltsraum für Anwälte und Richter, um sich einen Kaffee zu holen. Eine junge Anwältin, die sich gerade an der Kaffeemaschine bedienen wollte, sah Alex und ließ ihr sofort den Vortritt. »Nach Ihnen, Euer Ehren«, sagte sie und machte Platz.
    Alex nahm sich einen Pappbecher. Sie nahm sich vor, in ihrem Büro eine Tasse zu deponieren. Allerdings, da sie nicht nur am Gericht in Keene Termine haben würde, sondern turnusmäßig auch in Laconia, Concorde, Nashua, Rochester, Milford, Jaffrey, Peterborough, Grafton und Coos, würde sie eine ganze Reihe Tassen brauchen. Sie drückte auf den Ausgabeknopf, doch es pfiff und zischte nur - die Maschine war leer. Ohne zu überlegen, nahm sie einen Filter, um frischen Kaffee aufzusetzen.
    »Euer Ehren, das kann ich doch übernehmen«, sagte die Anwältin sichtlich verlegen. Sie nahm Alex den Filter aus der Hand und stopfte ihn in die Halterung.
    Alex starrte die Anwältin an. Sie fragte sich, ob sie noch jemals irgendwer mit Alex anreden würde oder ob sie nur noch dieses »Euer Ehren« zu hören bekäme. Sie fragte sich, ob sich noch irgendwer trauen würde, sie darauf aufmerksam zu machen, wenn sie Spinat zwischen den Zähnen hatte. Es war ein seltsames Gefühl, so genau beobachtet zu werden und gleichzeitig zu wissen, dass ihr keiner mehr rundheraus ins Gesicht sagen würde, wenn irgendwas nicht stimmte.
    Die Anwältin brachte ihr einen Becher frisch aufgebrühten Kaffee. »Ich wusste nicht, wie Sie ihn trinken, Euer Ehren«, sagte sie und reichte ihr Zucker und ein Milchkännchen.
    »Danke«, sagte Alex, doch als sie den Becher entgegennahm, schüttete sie sich etwas von dem Kaffee über ihre Robe.
    Sehr geschickt, Alex, dachte sie.
    »Ach, du liebe Zeit«, sagte die Anwältin. »Tut mir leid!«
    Wieso tut es dir leid, dachte Alex, wo es doch meine Schuld war? Die Anwältin wischte bereits mit Servietten den verschütteten Kaffee auf, während Alex sich die Robe auszog. Einen übermütigen Augenblick lang überlegte sie, nicht nur die Robe auszuziehen, sondern auch alles andere bis auf die Unterwäsche, um so durch das Gerichtsgebäude zu marschieren, wie in dem Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Ist meine Robe nicht wunderschön?, würde sie sagen, und alle würden antworten, Oh ja, Euer Ehren.
    Sie wusch sich den bekleckerten Ärmel an der Spüle aus und machte sich dann mit der Robe über dem Arm wieder auf den Rückweg zu ihrem Büro. Doch da sie der Gedanke deprimierte, eine weitere halbe Stunde allein zu warten, beschloss sie, sich ein wenig die Beine zu vertreten. Sie ging über Flure, in denen sie noch nie gewesen war, und kam schließlich zum Hinterausgang.
    Draußen auf dem Hof stand eine Frau in einem grünen Overall und rauchte eine Zigarette. Die Luft war winterlich, und auf dem Asphalt glitzerte der Frost wie Glasscherben. Alex schlang die Arme um sich und trat zu der Fremden. »Hallo« sagte sie.
    »Hi.« Die Frau blies eine Rauchwolke aus. »Ich hab Sie noch nie hier gesehen. Wie heißen Sie?«
    »Alex.«
    »Ich bin Liz. Ich bin sozusagen die ganze Wartungsabteilung des Hauses.« Sie grinste. »Und wo arbeiten Sie hier im Gericht?«
    Alex fischte eine kleine Dose Bonbons aus ihrer Tasche — nicht weil sie Appetit auf Pfefferminz hatte, sondern um etwas Zeit zu schinden, ehe die Unterhaltung jäh zu Ende war. »Ich, ähm«, setzte sie an, »ich bin die Richterin.«
    Prompt sah Liz sie mit ernster Miene an und trat verlegen einen Schritt zurück.
    »Also, ich hätte es Ihnen am liebsten nicht verraten, weil Sie so nett mit mir geplaudert haben. Das macht hier sonst keiner, und ich fühl mich... ein bisschen einsam.« Alex stockte. »Könnten Sie vielleicht vergessen, dass ich die Richterin bin?«
    Liz trat die Zigarette unter dem Schuh aus. »Kommt drauf an.«
    Alex nickte. Sie drehte die Bonbon-Dose in der Hand. »Möchten Sie eins?«
    Nach kurzem Zögern streckte Liz eine Hand aus. »Gern, Alex«, sagte sie, und sie lächelte.
    Peter schlich durchs Haus wie ein Geist. Er langweilte sich, weil Josie nicht mehr nach der Schule zu ihm kommen durfte. Joey spielte auch nicht mit ihm - der war immer nur beim Fußballtraining oder machte Computerspiele oder traf sich mit seinen Freunden. Von seinem kleinen Bruder wollte er nichts wissen.
    Eines Abends nach dem Essen hörte Peter Geräusche aus dem Keller. Er war nicht mehr unten gewesen, seit seine Mutter ihn mit Josie und dem

Weitere Kostenlose Bücher