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Titel: 19 Minuten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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sie. Wichtig war, bei den Phrasen und absehbaren Reaktionen gleichwohl ihre Persönlichkeit durchscheinen zu lassen. »Mir gefällt die Herausforderung, schnelle Entscheidungen zu treffen. Meine Stärke ist das Beweisrecht. Ich habe häufig mit Richtern zu tun, die ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben, und ich weiß, das wird bei mir nicht vorkommen.« Sie zögerte. Sollte sie sich so präsentieren, wie es die meisten taten, die sich um ein Richteramt bewarben - und aus den hochgeachteten Rängen der Staatsanwaltschaft kamen? Oder sollte sie sich so geben, wie sie war, nämlich eine Pflichtverteidigerin ohne Allüren?
    Sie sah in die Gesichter der Männer und Frauen vor sich.
    »Ich glaube, ich möchte in erster Linie deshalb Richterin werden, weil in einem Gerichtssaal Chancengleichheit herrscht, und das gefällt mir. Wenn du ihn betrittst, ist dein Fall für die Dauer der Verhandlung das Wichtigste auf der Welt, für alle im Saal. Das System arbeitet für dich. Es spielt keine Rolle, wer du bist oder wo du herkommst - wie du behandelt wirst, hängt von den Buchstaben des Gesetzes ab, nicht von sozioökonomischen Variablen.«
    Eine Frau in der Kommission warf einen Blick auf ihre Notizen. »Was glauben Sie, macht eine gute Richterin aus, Ms. Cormier?«
    Alex spürte, wie ihr ein Schweißtropfen zwischen den Schulterblättern herunterlief. »Sie muss geduldig, aber bestimmt sein. Sie muss die Kontrolle haben, ohne arrogant zu sein. Sie muss das Beweisrecht kennen und die Regeln eines Gerichtssaals.« Sie hielt inne. »Es mag seltsam klingen, aber ich glaube, eine gute Richterin kann hervorragend Tangrams legen.«
    Eine ältere Frau von einer Opferhilfsgruppe blinzelte. »Wie bitte?«
    »Tangrams. Ich habe eine fünfjährige Tochter. Sie spielt gern Tangram; dabei muss man aus verschieden großen Dreiecken und Vierecken bestimmte Formen legen - ein Boot, einen Zug, einen Vogel. Man braucht ein gutes räumliches Vorstellungsvermögen, und man darf nicht nach Schema F denken. Genau wie eine Richterin. Sie wird mit vielen unterschiedlichen Faktoren konfrontiert - die beteiligten Parteien, die Opfer, die Polizei, die Gesellschaft - und muss sie irgendwie alle einbeziehen, um das Problem - darunter auch immer wieder Präzedenzfälle - innerhalb eines vorgegebenen Rahmens zu lösen.«
    Die Mitglieder der Auswahlkommission schwiegen. Peinlich berührt wandte Alex den Kopf und sah durch das Fenster hinaus. Und da sah sie den nächsten Bewerber auf den Eingang zugehen. Es konnte kein Zweifel bestehen: Wie hätte sie auch die angegrauten Locken vergessen können, durch die sie einst mit den Fingern gefahren war, die Geografie von Wangenknochen und Kinnpartie, die sie mit den Lippen erkundet hatte. Logan Rourke - ihr Juraprofessor, ihr ehemaliger Liebhaber, der Vater ihrer Tochter - betrat das Gebäude.
    Alex holte tief Luft, mit einem Mal entschlossener denn je, den
    Posten zu bekommen. »Ms. Cormier?«, fragte die ältere Frau, und Alex wurde klar, dass sie soeben eine Frage verpasst hatte.
    »Ja. Bitte?«
    »Ich habe gefragt, wie gut Sie Tangrams legen können.«
    Alex blickte ihr in die Augen. »Ma'am«, sagte sie und lächelte sie strahlend an, »ich bin unschlagbar.«
    Zuerst sahen die Zahlen einfach dicker aus. Aber dann fingen sie an, sich zu verbiegen, und Peter musste die Augen zusammenkneifen, um zu sehen, ob es eine 3 oder eine 8 war. Seine Lehrerin schickte ihn zum Sehtest.
    Seine neue Brille war federleicht und hatte besondere Gläser, die auch dann nicht verkratzten, wenn ihm die Brille beim Spielen von der Nase fiel. Das Gestell war aus Draht und, wie er fand, viel zu dünn für die gewölbten Gläser, durch die seine Augen aussahen wie die einer Eule: übergroß, hell, so blau.
    Als Peter die Brille bekam, war er erstaunt. Plötzlich verwandelte sich das verschwommene Etwas in der Ferne in eine Farm mit Silos und Feldern und Kühen. Die Buchstaben auf dem roten Schild ergaben das Wort STOP. Seine Mutter hatte in den Augenwinkeln winzige Fältchen. Alle Superhelden hatten Hilfsmittel -Batman seinen Gürtel, Superman sein Cape - und er hatte seine Brille, die ihm einen Adlerblick verschaffte. Er war so aus dem Häuschen, dass er sogar mit der Brille ins Bett ging.
    Erst am nächsten Tag in der Schule begriff er, dass seine Mitschüler eine ganz andere Meinung über seine verbesserte Sehkraft hatten: Der hat ja vier Augen; der ist wohl blind wie eine Fledermaus. Seine Brille war kein Hilfsmittel eines Superhelden

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