19 Minuten
mehr, sie war ein Makel, noch etwas, wodurch er sich von allen anderen unterschied. Und das war noch nicht das Schlimmste.
Jetzt, wo er die Welt scharf sah, entgingen Peter die Blicke der anderen nicht mehr. Sie musterten ihn, als wäre er die Pointe eines Witzes.
Und so senkte Peter ab jetzt den Blick, um nichts sehen zu müssen.
Am Tag der offenen Tür saßen Alex und Lacy zusammen an einem der Minitische im Klassenzimmer. Die Lehrerin beugte sich zu ihnen herunter und reichte jeder ein kleines Stück Papier. »Ich möchte alle Eltern bitten, ein Wort aufzuschreiben, das ihr Kind am besten beschreibt. Später machen wir dann daraus eine Liebescollage.«
Alex blickte Lacy ein. »Eine Liebescollage?«
»Stell doch die arme Vorschule nicht immer infrage!« Lacy zwinkerte Alex zu.
»Tu ich gar nicht. Im Gegenteil, ich glaube, alles, was du über das Gesetz wissen musst, lernst du als Kind in der Vorschule. Zum Beispiel, schlag andere nicht, nimm ihnen nichts weg. Bring sie nicht um. Vergewaltige sie nicht.«
Lacy zog eine Augenbraue hoch.
»Doch, wirklich. Das ist ein Gesellschaftsvertrag.«
»Was, wenn du später als Richterin nach einem Gesetz entscheiden müsstest, das du für falsch hältst?«
»Erstens steht das mit der Richterin noch völlig in den Sternen, und zweitens würde ich es tun. Es würde mir zwar schwerfallen, aber ich würd's tun«, sagte Alex. »Kein Richter sollte seine persönlichen Überzeugungen mit in den Gerichtssaal bringen.«
Lacy riss Fransen in den Rand ihres Zettels. »Wenn du den Job kriegst, wann kannst du dann du selbst sein?«
Ehe Alex antworten konnte, kam Josie zu ihnen an den Tisch, mit rosigen Wangen. »Mommy«, sagte sie und zog Alex an der Hand, während Peter bei Lacy auf den Schoß kletterte. »Wir sind fertig.«
Sie hatten in der Spielecke etwas gebaut. Lacy und Alex standen auf und ließen sich von den Kindern mitziehen. »Das ist unser Haus«, verkündete Josie und schob einen großen Bauklotz beiseite, der als Tür diente. »Wir sind verheiratet.«
Lacy stieß Alex mit dem Ellbogen an. »Ich hab mir immer gewünscht, dass ich mich gut mit der Schwiegermutter meines Sohnes verstehe.«
Peter stand am Holzherd und rührte in einem Plastiktopf.
Josie zog sich einen viel zu großen Kittel über. »Ich muss zur Arbeit. Bin zum Abendessen wieder da.«
»Okay«, sagte Peter. »Es gibt Frikadellen mit Pisghetti.«
»Was hast du für einen Beruf?«, fragte Alex ihre Tochter.
»Ich bin Richterin. Ich schicke den ganzen Tag Leute ins Gefängnis und dann fahr ich nach Haus und esse Frikadellen mit Pisghetti.« Sie umkreiste einmal das Haus und ging dann durch die Eingangstür wieder hinein.
»Setz dich«, sagte Peter. »Du kommst wieder zu spät.«
Lacy schloss die Augen. »Hat er das etwa von mir?«
Sie schauten zu, wie Josie und Peter ihre Teller beiseite schoben und dann auf ein Quadrat aus Bauklötzen deuteten. »Das ist das Bett«, erklärte Josie.
Die Lehrerin trat zu Alex und Lacy. »Das spielen sie ständig«, sagte sie. »Ist das nicht süß?«
Alex sah, wie Peter sich auf die Seite legte und die Beine anzog. Josie schmiegte sich an seinen Rücken und schlang einen Arm um seine Taille.
Lacy nahm einen Bauklotz als Unterlage und schrieb auf ihren Zettel das Wort ZART. Das passte auf Peter - er war extrem zart, fast durchsichtig. Und er brauchte jemanden wie Josie, die ihn umschloss wie eine schützende Hülle.
Alex nahm den Bleistift und strich ihren Zettel glatt. Etliche Adjektive wirbelten ihr durch den Kopf - es passten so viele auf ihre Tochter: lebendig, treu, schlau, atemberaubend - aber dann kam ihr etwas ganz anderes in den Sinn. Mein, schrieb sie.
Als die Lunchdose auf den Asphalt knallte und aufsprang, überfuhr der nachfolgende Wagen das Thunfischsandwich und die Tüte Doritos. Der Busfahrer merkte wie immer nichts. Die Fünftklässler stellten sich inzwischen so geschickt an, dass sie das Fenster in Sekundenschnelle auf und wieder zu hatten. Peter schossen die Tränen in die Augen, als die Jungs sich anschließend triumphierend abklatschten. Er wusste genau, das war der Augenblick, in dem er sich zur Wehr setzen sollte! - aber seine
Mutter hatte ja keine Ahnung, dass alles dann nur noch schlimmer werden würde.
»Ach, Peter«, seufzte Josie.
Er blickte auf seine Fäustlinge. »Ich glaube nicht, dass ich zu dir zum Spielen kommen kann.«
»Wieso nicht?«
»Weil meine Mom gesagt hat, sie bestraft mich, wenn meine Lunchdose wieder weg
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