19 Minuten
für mich nehmen.«
Die Richterin sah ihn an. »Aber es ist unnütz. Josie kann sich an nichts erinnern.«
»Nichts für ungut, Euer Ehren, aber das muss Josie mir schon selber sagen.«
Patrick machte sich auf eine Diskussion gefasst, doch die Richterin trat beiseite und ließ ihn herein. Patrick sah sich in der Diele um - ein schöner alter Tisch mit einer Grünlilie, die sich dekorativ über die Oberfläche ergoss, geschmackvolle Landschaftsbilder an den Wänden. So wohnte also eine Richterin. Seine eigene Wohnung war dagegen ein Saustall mit Bergen von Wäsche und alten Zeitungen und abgelaufenen Lebensmitteln im Kühlschrank.
Er wandte sich an Josie. »Was macht der Kopf?«
»Tut noch weh«, sagte sie, so leise, dass Patrick sie kaum verstand.
Er wandte sich an die Richterin. »Können wir uns vielleicht irgendwo einen Moment setzen?«
Sie führte ihn in die Küche mit Schränken aus Kirschholz, jeder Menge Sonne und einer Schale mit Bananen auf der Arbeitsfläche. Er setzte sich Josie gegenüber an den Tisch, rechnete damit, dass die Richterin neben ihrer Tochter Platz nehmen würde, doch zu seiner Überraschung blieb sie stehen. »Wenn Sie mich brauchen«, sagte sie, »ich bin oben.«
Josie blickte gequält auf. »Kannst du nicht hierbleiben?«
Einen kurzen Moment lang sah Patrick in den Augen der Richterin etwas aufschimmern - Sehnsucht? Reue? -, aber es erlosch wieder, ehe er es benennen konnte. »Du weißt, dass das nicht geht«, sagte sie sanft.
Patrick hatte zwar keine Kinder, aber eins wusste er genau: Wenn seine Tochter so haarscharf dem Tod entkommen wäre, täte er sich schwer damit, sie aus den Augen zu lassen.
»Ich bin sicher, Detective Ducharme wird schonend mit dir umgehen«, sagte die Richterin.
Patrick nickte ihr zu. Ein guter Cop war stets nach besten Kräften bemüht, sich für alle und jeden gleich einzusetzen, aber wenn jemand, den du kanntest, beraubt oder bedroht oder verletzt wurde, legtest du dich noch mehr ins Zeug. Patrick hatte das in wesentlich stärkerem Maße vor Jahren mit seiner Freundin Nina und ihrem Sohn erlebt. Er kannte Josie Cor-mier nicht persönlich, aber er würde sie wie ein rohes Ei behandeln.
Sobald Alex die Küche verlassen hatte, nahm er Notizblock und Stift aus der Jackentasche. »So«, sagte er. »Wie geht's dir?«
»Hören Sie, Sie müssen nicht den Besorgten spielen.«
»Ich spiele gar nichts«, sagte Patrick.
»Was wollen Sie eigentlich hier. Ich meine, wir können noch so viel reden, davon wird keiner von den Toten wieder lebendig.«
»Das stimmt«, pflichtete Patrick bei, »aber wir können Peter
Houghton erst dann den Prozess machen, wenn wir genau wissen, was passiert ist. Und leider war ich nicht dabei.«
»Leider?«
Er blickte auf den Tisch. »Manchmal denke ich, es ist leichter, zu den Opfern zu gehören, als zu denen, die etwas Schreckliches nicht verhindern konnten.«
»Ich war dabei«, sagte Josie den Tränen nahe, »und ich konnte es nicht verhindern.«
»He«, sagte Patrick, »du kannst nichts dafür.«
Sie blickte ihn an, als wünschte sie sich nichts sehnlicher, obwohl sie wusste, dass er sich täuschte. Und Patrick hatte gut reden. Jedes Mal, wenn er daran denken musste, wie er mit dem Auto zur Sterling High gerast war, stellte er sich vor, er wäre aus irgendwelchen Gründen schon an der Schule gewesen, als der Amokläufer auftauchte. Dass er den Jungen unschädlich gemacht hätte, ehe irgendjemand zu Schaden gekommen wäre.
»Ich kann mich an nichts erinnern«, sagte Josie.
»Weißt du denn noch, dass du in der Sporthalle warst?«
Josie schüttelte den Kopf.
»Nein. Ich weiß nicht mal mehr, dass ich morgens aufgestanden und zur Schule gefahren bin.«
Wie Patrick von den Therapeuten wusste, die mit den Opfern arbeiteten, war das völlig normal. Amnesie war ein Schutzmechanismus, der verhinderte, dass wir an einem traumatischen Erlebnis zerbrachen, weil wir es in der Erinnerung immer wieder durchlebten. Irgendwie beneidete er Josie darum. Er hätte das, was er gesehen hatte, auch gern verschwinden lassen.
»Kanntest du Peter Houghton?«
»Alle kannten ihn.«
»Wie meinst du das?«
Josie zuckte die Achseln. »Er war auffällig.«
»Weil er anders war als alle anderen?«
Josie überlegte einen Moment. »Weil er nicht versuchte dazuzugehören.«
»Du warst mit Matthew Royston zusammen?«
Sogleich schossen Josie Tränen in die Augen. »Er wollte Matt genannt werden.«
Patrick nahm eine Papierserviette und reichte
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