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Titel: 19 Minuten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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leid. Ich weiß im Moment nicht, wo mir der Kopf steht.«
    »Kann ich mir denken. Die Nachrichten sind voll davon. Wie geht's dir?«
    »Ach, so einigermaßen«, sagte er, obwohl er eigentlich meinte, dass er nachts nicht schlafen konnte, dass er die Gesichter der Toten sah, wenn er die Augen schloss, dass sein Mund voll mit all den Fragen war, die er bestimmt zu stellen vergessen hatte.
    »Patrick«, sagte sie, weil sie seine älteste Freundin war und weil sie ihn besser kannte, als jeder andere, »mach dir keine Vorwürfe.«
    Er senkte den Kopf. »Es ist in meiner Stadt passiert. Natürlich mache ich mir welche.«
    »Aber du hast doch gar kein Superman-Kostüm«, sagte Nina.
    »Das ist nicht witzig.«
    »Stimmt«, pflichtete sie ihm bei. »Aber dir ist doch wohl klar, dass der Prozess ein Kinderspiel wird. Wie viele Zeugen hast du? Tausend?«
    »So etwa.«
    Nina wurde still. Patrick musste ihr nicht erklären, dass es mit einer Verurteilung von Peter Houghton nicht getan war. Damit Patrick seinen Seelenfrieden halbwegs wiederfinden konnte, würde er verstehen müssen, warum Peter zum Amokläufer geworden war.
    Um verhindern zu können, dass so etwas je wieder geschah.
    Nach Peters Haftrichtervorführung hatte Lewis Houghton fünf Tage lang zu Hause gehockt, doch am sechsten Tag wachte er auf, packte seine Aktentasche, aß seine Cornflakes, las die Zeitung und fuhr zu Arbeit.
    Auf der Fahrt ging ihm seine Glücksformel durch den Kopf - H = R/E , Glück gleich Realität dividiert durch Erwartungen -, die auf der universellen Wahrheit beruht, dass jeder Mensch stets irgendwelche Erwartungen hegte. Aber seit einigen Tagen fragte er sich, ob das tatsächlich zutraf. Während er mitten in der Nacht wachlag und an die Deckc starrte, neben ihm seine Frau, die sich schlafend stellte, aber genau wie er nachgrübelte, war Lewis irgendwann zu der Überzeugung gelangt, dass man sich dazu konditionieren konnte, absolut nichts vom Leben zu erwarten. Das hätte dann zur Folge, dass du, wenn du deinen ersten Sohn verlorst, nicht trauertest, und dass es dich nicht aus der Bahn warf, wenn dein zweiter Sohn eingesperrt wurde, weil er ein Massaker angerichtet hatte.
    Auf dem Campus angekommen, hatte Lewis das Gefühl, alles im Griff zu haben. Hier war er nicht der Vater des Amokläufers, sondern Lewis Houghton, Professor für Volkswirtschaft. Er musste sich nicht den Stand seiner Forschung ansehen und sich fragen, an welcher Stelle sie ihm entglitten war.
    Lewis hatte gerade einen Stoß Unterlagen aus der Aktentasche gezogen, als Hugh Macquarie, der Fakultätsleiter, den Kopf zur Tür hereinsteckte. »Houghton? Was machen Sie denn hier?«
    »Soweit ich weiß, bezahlt das College mich dafür, dass ich hier arbeite«, sagte Lewis, bemüht, einen Scherz zu machen.
    Hugh betrat das Büro. »Mein Gott, Lewis, ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Er zögerte.
    Lewis nahm es ihm nicht übel. Er wusste ja selbst kaum, was er sagen sollte. Für jemanden, dessen Sohn gerade zehn Menschen erschossen hatte, gab es wahrscheinlich keine tröstlichen Worte.
    »Ich hätte Sie sonst zu Hause angerufen. Lisa wollte sogar schon selbst vorbeigekommen sein. Wie hält Lacy sich?«
    Lewis schob seine Brille ein Stück höher. »Oh«, sagte er. »Na ja, wir versuchen, alles so weit wie möglich normal weiterlaufen zu lassen.«
    Hugh setze sich auf den Stuhl vor Lewis' Schreibtisch. »Lewis, nehmen Sie eine Weile frei«, sagte er.
    »Danke, Hugh. Das ist sehr nett.« Lewis blickte auf die Tafel an der Wand, auf eine Gleichung, die er ausgeknobelt hatte. »Aber es ist besser, wenn ich arbeite. Das lenkt mich ab.« Lewis nahm ein Stück Kreide, trat an die Tafel und fing an, eine lange, hübsche Zahlenreihe zu schreiben, die ihn beruhigte.
    Hugh stand auf und legte Lewis eine Hand auf den Arm, sodass er mitten in der Gleichung verharrte. »Ich hab mich vielleicht falsch ausgedrückt. Wir möchten, dass Sie freimachen.«
    Lewis starrte ihn an. »Oh. Ach so. Ich verstehe«, sagte er, obwohl er es nicht verstand. Wenn Lewis bereit war, Beruf von Privatleben zu trennen, wieso konnte das Sterling College das dann nicht auch?
    »Nur für kurze Zeit«, sagte Hugh. »Es ist besser so.«
    Für wen?, dachte Lewis, aber er sagte nichts mehr, bis er hörte, wie Hugh die Tür auf dem Weg nach draußen hinter sich schloss.
    Als der Fakultätsleiter gegangen war, hob Lewis wieder die Kreide. Er starrte auf die Gleichungen, bis er die Zahlen nicht mehr klar erkennen konnte,

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