19 Minuten
sie ihr. »Tut mir leid, was mit ihm passiert ist, Josie.«
Sie senkte den Kopf. »Mir auch.«
Er wartete, bis sie sich über die Augen gewischt, die Nase geputzt hatte. »Weißt du, was Peter gegen Matt gehabt haben könnte?«
»Viele haben sich über ihn lustig gemacht«, sagte Josie. »Nicht nur Matt.«
Du auch?, dachte Patrick. Er dachte an das beschlagnahmte Jahrbuch aus Peters Zimmer, an die umkringelten Fotos der Schüler, die zum Opfer wurden, während andere Glück gehabt hatten. Aus vielerlei Gründen - zum Beispiel, weil für Peter die Zeit knapp wurde, aber auch, weil es sich als schwieriger herausstellte, als er gedacht hatte, dreißig Leute in einer Schule zur Strecke zu bringen. Aber von allen Zielen, die Peter in dem Jahrbuch markiert hatte, war nur das Foto von Josie durchgestrichen, als hätte er es sich anders überlegt. Nur unter ihrem Gesicht standen in Druckbuchstaben die Worte LEBEN LASSEN.
»Kanntest du ihn persönlich? Hattet ihr gemeinsame Kurse oder so?«
Sie blickte auf. »Ich hab mal mit ihm zusammen gejobbt.«
»Wo?«
»Im Kopierladen in der Stadt.«
»Seid ihr miteinander klargekommen?«
»Manchmal«, sagte Josie. »Nicht immer.«
»Wieso nicht?«
»Er hat in dem Laden mal Feuer angemacht, und ich hab ihn verpetzt. Da hat er den Job verloren.«
Patrick machte sich eine Notiz. Wieso hatte Peter beschlossen, sie zu verschonen, wo er doch allen Grund gehabt hätte, sauer auf sie zu sein?
»Und davor?«, fragte Patrick. »Würdest du sagen, ihr wart befreundet?«
Josie faltete aus der Serviette, mit der sie sich die Tränen abgewischt hatte, ein Dreieck, dann ein kleineres und noch ein kleineres. »Nein«, sagte sie. »Waren wir nicht.«
Die Frau neben Lacy trug ein kariertes Flanellhemd, roch nach Zigarettenqualm und hatte vorn eine Zahnlücke. Sie musterte Lacys Rock und Bluse. »Das erste Mal hier?«, fragte sie.
Lacy nickte. Sie saßen in einem langgestreckten Raum mit zwei langen Stuhlreihen. Vor ihren Füßen verlief eine rote Trennlinie, dann kam die nächste Reihe. Häftlinge und Besucher saßen einander gegenüber, wie Spiegelbilder, und führten abgehackte Gespräche. Die Frau neben Lacy lächelte sie an. »Man gewöhnt sich dran«, sagte sie.
Jeweils ein Elternteil durfte Peter alle zwei Wochen für eine Stunde besuchen. Lacy hatte einen Korb mit selbstgebackenen Muffins, Zeitschriften und Büchern mitgebracht - damit Peter sich vielleicht etwas wohler fühlte. Doch der Vollzugsbeamte an der Anmeldung hatte alles konfisziert. Kein Gebäck. Und Lesestoff musste geprüft werden.
Ein Mann mit geschorenem Kopf und von oben bis unten tätowierten Armen steuerte auf Lacy zu. Sie schauderte - hatte er da ein Hakenkreuz auf der Stirn? »Hi, Mom«, murmelte er, und Lacy sah, wie die Augen der Frau neben ihr die Tätowierungen und den kahlen Kopf und die orangerote Gefängniskluft abstreiften und einen kleinen Jungen sahen, der im Tümpel hinterm Haus Kaulquappen fing. Jeder hier , dachte Lacy, ist jemandes Sohn.
Sie wandte den Blick ab, als die beiden sich umarmten, und sah, wie Peter hereingeführt wurde. Einen Moment lang blieb ihr das Herz stehen - er war so dünn, und seine Augen hinter der Brille waren so leer -, doch dann schob sie ihre Gefühle beiseite und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. Sie würde so tun, als mache es ihr nicht das Geringste aus, ihren Sohn in Gefängnismontur zu sehen, als habe sie keine Panikattacke bekommen, als sie auf den Parkplatz der Haftanstalt fuhr, als sei es völlig normal, in einem Raum mit Drogendealern und Vergewaltigern zu sitzen und den eigenen Sohn zu fragen, ob er auch genug zu essen bekam.
»Peter«, sagte sie und schlang die Arme um ihn. Es dauerte einen Moment, doch dann erwiderte er die Umarmung. Sie drückte das Gesicht an seinen Hals, so wie früher, als er ein Baby war, und sie dachte, sie würde ihn verschlingen — doch er roch nicht wie ihr Sohn. Einen Moment lang gab sie sich dem Wunschtraum hin, alles wäre ein Irrtum - Peter ist gar nicht im Gefängnis! Das hier ist das bedauernswerte Kind von jemand anderem! -, doch dann merkte sie, was anders war. Er bekam hier ein anderes Shampoo und Deo als zu Hause; dieser Peter roch schärfer, herber.
Plötzlich tippte ihr jemand auf die Schulter. »Ma'am«, sagte der Aufseher, »Sie müssen ihn jetzt loslassen.«
Wenn das nur so einfach wäre, dachte Lacy.
Sie nahmen rechts und links der roten Linie Platz.
»Wie geht's dir?«, fragte sie.
»Ich bin noch
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