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Titel: 19 Minuten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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dieser wenden wir uns an Freunde und Angehörige, weil wir Unterstützung suchen, eine Schulter zum Weinen und einen Menschen, der uns auf dem schmerzhaften und qualvollen Weg begleitet. Wir können Matt nicht zurückbekommen, aber wir können uns mit der Gewissheit trösten, dass er im Tod den Frieden gefunden hat, der ihm auf Erden versagt blieb.«
    Der Pastor trat beiseite, und Matts Vaters ging nach vorn. Josie kannte ihn natürlich. Er machte viele Witze, die überhaupt nicht komisch waren. Er hatte bis zu einer schweren Knieverletzung an der Uni Vermont Eishockey gespielt und große Hoffnungen auf Matt gesetzt. Jetzt wirkte er gebückt und kraftlos, wie eine leere Hülle seiner selbst. Er erzählte, wie er Matt Schlittschuhlaufen beigebracht hatte, wie er ihn an einem Eishockeyschläger mitgezogen und plötzlich gemerkt hatte, dass der Junge sich gar nicht mehr festhielt. In der ersten Reihe fing Matts Mutter an zu weinen. Laute, geräuschvolle Schluchzer, die gegen die Kirchenwände klatschten.
    Ehe Josie merkte, was sie tat, stand sie auf. »Josie!«, flüsterte ihre Mutter zischend neben ihr - und war für einen Sekundenbruchteil wieder die Mutter, die sie so gut kannte, die niemals unangenehm auffiel. Josie hatte das Gefühl, ihre Füße würden den Boden nicht berühren, so stark zitterte sie, als sie in dem schwarzen Kleid, das sie von ihrer Mutter geliehen hatte, auf den Gang trat, als sie auf Matts Sarg zuging, der sie anzog wie ein Magnet.
    Sie spürte die Augen von Matts Vater auf sich, hörte das Raunen der Trauergemeinde. Sie erreichte den Sarg, der so glänzend poliert war, dass sich ihr Gesicht darin spiegelte, das Gesicht einer Schwindlerin.
    »Josie«, sagte Mr. Royston, kam vom Podium auf sie zu und umarmte sie. »Was hast du denn?«
    Josies Kehle schloss sich wie eine Rosenknospe. Wie konnte dieser Mann, dessen Sohn tot war, sie das fragen?
    »Möchtest du etwas sagen?«, fragte Mr. Royston. »Über Matt?«
    Ehe Josie wusste, wie ihr geschah, führte Matts Vater sie zum
    Podium. Sie nahm vage ihre Mutter wahr, die aus den Bankreihen getreten war und jetzt langsam nach vorn kam - um was zu tun? Sie vor einem weiteren Fehler zu bewahren?
    Josie starrte auf eine Landschaft aus Gesichtern, die sie erkannte und eigentlich doch nicht kannte. Sie hat ihn geliebt, dachten sie alle. Sie war bei ihm, als er starb. Ihr Atem verfing sich im Käfig ihrer Lunge wie eine Motte.
    Was hatte sie eigentlich sagen wollen? Die Wahrheit?
    Josie spürte, wie ihre Lippen zuckten, ihr Gesicht sich verzog. Sie begann zu schluchzen, so heftig, dass die Holzdielen unter ihren Füßen knarrten, so heftig, dass Matt sie - da war Josie sicher - sogar in dem verschlossenen Sarg hören konnte. »Es tut mir leid«, sagte sie mit erstickter Stimme - zu ihm, zu Mr. Royston, zu allen, die zuhörten. »Oh Gott. Es tut mir so furchtbar leid.«
    Sie merkte nicht, wie ihre Mutter die Stufen zum Podium heraufkam, einen Arm um sie legte und sie hinter den Altar führte. Sie protestierte nicht, als ihre Mutter ihr ein Taschentuch reichte und ihr den Rücken streichelte. Sie ließ sich sogar widerstandslos von ihrer Mutter die Haare hinter die Ohren streichen, wie früher, als Josie noch so klein war, dass sie sich kaum an die Geste erinnern konnte. »Die halten mich bestimmt alle für verrückt«, sagte Josie.
    »Nein, sie wissen, dass du Matt vermisst.« Ihre Mutter zögerte. »Ich weiß, du glaubst, dass es deine Schuld ist.«
    Josies Herz schlug so fest, dass es den dünnen Chiffonstoff des Kleides bewegte.
    »Schätzchen«, sagte ihre Mutter, »du hättest ihn nicht retten können.«
    Josie nahm sich ein frisches Taschentuch und tat so, als hätte ihre Mutter sie verstanden.
    Höchste Sicherheitsstufe bedeutete, dass Peter keinen Zellengenossen hatte. Er durfte auch nicht in den Freizeitraum. Sein Essen wurde ihm dreimal am Tag in die Zelle gebracht. Und weil er noch immer als selbstmordgefährdet galt, enthielt seine Zelle lediglich eine Toilette und eine fest installierte Pritsche - kein Bettzeug, keine Matratze, nichts, was als Hilfsmittel dienen konnte, um sich von der Welt zu verabschieden.
    Die Rückwand seiner Zelle bestand aus vierhundertfünfzehn Zementsteinen; er hatte sie gezählt. Zweimal. Seitdem starrte er immer wieder direkt in die Kamera, die ihn beobachtete, und fragte sich, wer wohl am anderen Ende der Kamera saß. Er stellte sich ein paar Aufseher vor, die vor einem altmodischen Monitor hockten und sich halb

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