190 - Der Finder
verbrannte; die erleichterten Gesichter seiner Mutter und seiner großen Schwester angesichts der Flammen; sein Stiefvater, der Mörder, am Familientisch; seine kleineren Geschwister, die Tiere im Hof, das reife Korn auf dem Feld; der Tag, an dem seine Mutter den neuen Mann aus dem Haus warf, nur kurze Zeit nach dem Mord; und dann die Nacht, als Cahai aus der Schlafkammer und vom Hof schlich und ohne Abschied davon lief. Nicht einmal dreizehn Jahre alt war er da.
Er sah sich auf der Weide bei einer Herde Shiips, er sah sich in einem kleinen Boot übers Meer fahren, er sah sich beim Fischen und Netzeflicken, er sah sich bei seinem ersten Kampf seinen Gegner mit einem Messer die Kehle aufschlitzen, und er sah sich an den Spieltischen der Kaschemmen in den Ruinenstädten am Meer.
Die Bilderflut verebbte, tiefer tauchte Cahai in die einzelnen Szenen ein, verharrte in ihnen, saß plötzlich mit fünf meist schlitzäugigen Männern an einem Tisch beim Kartenspiel.
Vor ihm häuften sich Silbermünzen und Goldstücke, vor den Männern lagen nur noch einzelne Münzen. Sie belauerten ihn misstrauisch und hielten ihre Karten dicht bei sich oder hatten sie sogar zusammen geschoben. Cahai kannte sie dennoch. Er sah ihre Farben und Figuren und Zahlen so deutlich, als wären alle fünf Blätter vor ihm auf dem Tisch ausgebreitet. Und wieder strich er den Einsatz ein, und noch einmal, und wieder und wieder.
Einer der Männer sprang auf, zog ein Schwert und holte aus. Cahai riss seinen Säbel aus der Scheide und parierte. Klingen klirrten, Funken sprühten, und schließlich wand sich der Angreifer in seinem Blut am Boden. Cahai nutzte das starre Entsetzen der anderen und floh aus der Kaschemme. Doch die Männer verfolgten ihn durch die Gassen der Ruinenstadt, bis hinunter zum Hafen. Er versteckte sich in einem Karren voller Tabakblätter, und seine Verfolger verloren die Spur.
Die Bilderfolge beschleunigte sich wieder. Zwei Jahre rasten an ihm vorüber, wie zwei Atemzüge kamen sie ihm vor. Schließlich ein Mädchen: zierlich, Mandelaugen, bronzefarbene Haut, sinnliche Lippen, blauschwarzes Haar. Die Bilder verharrten jetzt länger, wieder tauchte er in Stunden längst vergangener Zeit ein. Schöne Stunden voller Lust und Zärtlichkeit. Fast täglich kletterte er zum Palastfenster hinauf, hinter der die Tochter des Ruinenfürsten auf ihn wartete.
Eines Nachts empfing sie ihn weinend. »Ich bekomme ein Kind.«
Cahai tröstete sie – und sich – und ging am Morgen, um nie mehr zurückzukehren.
Doch der Fürst der Ruinenstadt schickte seinen Häscher aus. Sie bewachten den Hafen und besetzten sämtliche Straßen, die aus den Ruinen führten. Der Fürst setzte ein Kopfgeld auf Cahai aus: Zehn Goldstücke für den, der ihn tot oder lebendig in den Palast brachte.
Im Schutze der Dunkelheit gelang es Cahai, sich auf einen Zweimaster zu schleichen. Im Laderaum versteckte er sich in einem Fass, das bis zur Hälfte mit eingesalzenem Fisch gefüllt war. Am frühen Morgen stach das Schiff in See. Es kostete Cahai alle Selbstbeherrschung, seinen Hunger nicht mit dem gesalzenen Fisch zu stillen. Der Durst hätte ihn umgebracht.
Und dann, am zweiten Tag in seinem Fischfass, kam die Stunde, die sein Leben veränderte: Grelles Licht schien ihn plötzlich zu blenden und ein brennender Fels füllte sein Bewusstsein aus, so klar und deutlich, als würde er direkt auf ihn zu gehen. Der Fels aber kam mit seinem Feuer zu ihm. Ihm wurde heiß, er drohte zu verbrennen, Panik würgte ihn, er wollte fliehen, doch das Feuer des Felsens umschloss ihn wie eine neue Haut.
Übergangslos fand er sich auf einem großen Platz wieder. Er war mit Ketten gebunden und vier Gestalten mit schwarzer Haut führten ihn an einer großen Menschenmenge vorbei. Cahai war vollkommen verwirrt, denn er erkannte seine Mutter und seine Geschwister unter den Menschen. Er konnte sich nicht erinnern, jemals in Ketten gewesen zu sein, jemals von schwarzen Gestalten mit rotweißen Hautbemalungen über einen Platz geschleppt zu werden. Die Einsicht erschütterte ihn. Denn wenn dies keine Erinnerung an eine vergangene Stunde war, dann musste es wohl die Gegenwart und die Wirklichkeit sein.
»Bitte nicht«, hörte er sich flüstern. »Bitte nicht, ich will leben…«
Er zerrte an seinen Ketten. »Bitte nicht…!«
Sie stießen ihn zu einem erhöhten Podest. Eine Holzstiege führte hinauf, ein maskierter Mann wartete oben. Neben der Holzstiege erkannte Cahai den Ruinenfürsten
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