1913
ihres jugendlichen Sohnes. Der Freund prahlt damit herum, der Sohn schämt sich fast zu Tode, die Mutter schämt sich fast zu Tode, Mutter und Sohn rudern auf den See hinaus, lieben sich, und schämen sich dann wirklich zu Tode. In Sachen Sinnlichkeit wurde Schnitzler von allen, auch seinen Kritikern, große Kennerschaft bescheinigt. Heute noch mehr, also seit auch seine Tagebücher bekannt sind.
Während seine Frau Olga, mit der er 1913 in einen zersetzenden Stellungskrieg verkeilt ist, mit den Gästen noch etwas isst und trinkt, zieht er sich zurück auf sein Zimmer und notiert: »Nachmittags mit heftiger Grippe ›Beate‹ vorgelesen von 6 – 9 beinah. Richard, Hugo, Arthur Kaufmann, Leo, Salten, Wassermann, Gustav; Olga.« Salten übrigens war Felix Salten, jene wunderbar schillernde Wiener Doppelbegabung des frühen 20 . Jahrhunderts, der mutmaßlich die Erzählung »Bambi« veröffentlichte und wohl – und unter Pseudonym – »Die Erinnerungen der Josefine Mutzenbacher«, eine selbst das in erotischen Dingen durchaus avancierte Wien herausfordernde Pornographie im Wiener Dialekt. Zwischen Porno und Bambi – das war genau die Janusköpfigkeit, die den besonderen Zauber und die besondere subversive Kraft Wiens in jenen Jahren ausmachte. Adolf Loos fand für all die Gestalten aus den Analysen von Sigmund Freud, aus den Geschichten von Arthur Schnitzler und aus den Bildern von Gustav Klimt die einzigartige Formel: »Ornament und Verbrechen«.
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Einen Tag nach der Lesung im Hause Schnitzler, am Dienstag, dem 25 . Februar, kauft Thomas Mann in München das Grundstück Poschingerstraße 1 . Noch am selben Tag beauftragt er den Architekten Ludwig offiziell mit dem Bau einer Villa, die seiner würdig ist: ruhig, überlegen, etwas steif. Gemeinsam mit seinem Architekten wartet er direkt neben dem Baugrundstück auf die Tram Nr. 30 zur Innenstadt. Den Stock mit dem runden Griff hat Thomas Mann wie immer über den linken Arm gehängt, und als er ein Staubkorn entdeckt, schlägt er es mit der Hand vom Paletot. Dann hört er die Tram von der Bogenhausener Höhe herunterkommen.
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Picasso besitzt drei Siamkatzen. Marcel Duchamp nur zwei. Und so steht es auch bis heute zwischen den beiden großen Revolutionären: 3 zu 2 .
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Das bedeutendste Werk, das Franz Kafka in diesem Jahr 1913 schreiben wird, sind seine Briefe an Felice. Es ist vol-ler Ernst, voller Verzweiflung, voller Komik. So schreibt er gleich am 1 . Februar: »Mein Magen ist, wie mein ganzer Mensch, seit paar Tagen nicht in Ordnung und ich suche ihm durch Hungern beizukommen.« Dann berichtet er Felice in wunderbaren Worten von einer Lesung Franz Werfels am vergangenen Tag. »Wie ein solches Gedicht, den ihm eingeborenen Schluss in seinem Anfang tragend, sich erhebt, mit einer ununterbrochenen, innern, strömenden Entwicklung – wie reißt man da, auf dem Kanapee zusammengekrümmt, die Augen auf!« Er hat Felice sogar ein Exemplar dessen neuen Gedichtbandes gewidmet, für »eine Unbekannte«; doch, »oh weh«: »Ich schicke Dir das Buch nächstens, wenn mir nur nicht immer die Art der Verpackung, der Aufgabe u.s.w. solche Sorgen machen würden.« Da sitzt also Franz Kafka in seinem Zimmer in Prag und verzweifelt über die Frage, wie er ein Buch einpacken soll. Wie gut, dass in diesem Moment die Druckfahnen für »Das Urteil« eintreffen.
Aber was wird Felice, dieser ungezwungenen, modernen, tangotanzenden jungen Angestellten und Frau im bestem Alter wohl durch den Kopf gehen, wenn sie von ihrem Franz Zeilen wie diese liest: »Liebste, sag warum liebst Du gerade einen so unglücklichen, mit seinem Unglück auf die Dauer gewiss ansteckenden Jungen? Ich muss einen Dunstkreis von Unglück mit mir führen. Aber nicht Angst haben, Liebste, und bei mir bleiben! Ganz nahe bei mir!«
Danach berichtet er wieder klagend von Schmerzen in der Schulter, von Erkältungen und Darmproblemen. Am 17 . Februar dann die vielleicht ehrlichsten und sicherlich schönsten Worte, die er je an die geliebte Verzauberin im fernen Berlin schrieb: »Manchmal denke ich, Du hast doch, Felice, eine solche Macht über mich, verwandle mich doch zu einem Menschen, der des Selbstverständlichen fähig ist.« Es wird ihr selbstverständlich nicht gelingen.
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Am 16 . Februar 1913 besteigt Josef Stalin am Wiener Nordbahnhof den Zug und reist zurück nach Russland.
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Seine Tagesration ist eine Leiche. Am Ende sind es genau 297 Körper, Bierkutscher, Prostituierte, namenlose
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