1913
Wasserleichen, die Dr. med. Gottfried Benn zwischen dem 25 . Oktober 1912 und dem 9 . November 1913 seziert. Tag für Tag steigt er in diesem kalten, vermaledeiten Februar mit weißem Kittel hinab in den Keller des Westend-Klinikums in Berlin-Charlottenburg und zückt sein Messer. Durchwühlt die Leichen, findet Todesursachen, aber keine Seelen. Es ist die Hölle für diesen empfindsamen, gerade 26 -jährigen Pfarrerssohn aus der Neumark, dieses pausenlose Aufschneiden, Vollstopfen, Zunähen, Aufschneiden. In diesen einsamen Monaten unter Tage und im Angesicht des Todes schließen sich Benns Augenlider, wie die Fotografien erzählen, von oben und von unten ein wenig zu. Er wird sie nie wieder ganz öffnen. »Dünn sah er durch die Lider«, schreibt Benn, kaum dem Sektionskeller entstiegen, als er sich in der Figur des »Rönne« das Leiden von der Seele zu kratzen versucht. Beim Blick durch seine dünnen Lider ahnt Benn, ungläubig blinzelnd, in seinem tristen Leichenkeller das Modell des 20 . Jahrhunderts: Eyes wide shut. Darum dichtet er, abends, nach dem zweiten, dritten Bier auf irgendein Blatt Papier: »Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch«. Und er weiß, am nächsten Tag, wenn der Morgen graut, wartet unten im Keller die nächste Leiche, die jetzt vielleicht noch lebt und um die Häuser zieht. Im nächsten Frühjahr bittet er ausgezehrt um seine Entlassung, und der Professor Dr. Keller lügt in seinem Abschlusszeugnis: »Während seiner Tätigkeit hat sich Herr Dr. Benn seiner Aufgabe in jeder Weise gewachsen gezeigt.« Schon Benns Erstling »Morgue«, seine im März 1912 erschienenen Gedichte aus dem Leichenschauhaus, bewies das Gegenteil: Schonungslose, kalte und doch verwegen spätromantische Gedichte über Körper, Krebs und Blut, die eine große, existentielle Erschütterung verraten und die man auf nüchternen Magen noch heute nicht lesen kann.
Ihre Wut und ihre Wucht aber machten über Nacht ihren Urheber, den unscheinbaren, nur 167 Zentimeter großen Pathologen mit Geheimratsecken und Bauchansatz zu einer geheimnisumwitterten Figur der Berliner Avantgarde. Der Bürgerschreck im Dreiteiler. »Schon diese erste Gedichtsammlung brachte mir den Ruf eines brüchigen Roués ein«, erinnerte sich Benn, »eines infernalischen Snobs und des typischen Kaffeehausliteraten, während ich auf den Kartoffelfeldern der Uckermark die Regimentsübungen mitmarschierte und in Döberitz beim Stab des Divisionskommandeurs im englischen Trab über die Kiefernhügel setzte.« Wir wissen nicht, ob es der Militärarzt Benn war, der eines Abends im »Café des Westens«, Kurfürstendamm / Ecke Joachimsthaler Straße an den Tisch Else Lasker-Schülers trat oder umgekehrt. Aber es gab keinen besseren Ort für diese beiden vor lyrischer Erschütterung bebenden Außenseiter, um sich zu finden. Das Künstlerlokal war ein mit Noblesse verkommener Ort, es gab mittelmäßige Wiener Küche wie bis heute in allen Berliner Künstlerlokalen, die etwas auf sich halten, die Luft stand von dem Qualm der Zigaretten, von draußen drang der ohrenbetäubende Straßenlärm hinein, auf den Zeitungen prangte der Stempel »Gestohlen im Café des Westens« und drinnen saß die Boheme und trank auf Pump. Eine Tasse Kaffee oder ein Glas Bier kosteten 25 Pfennig, und man konnte bis fünf Uhr morgens davor sitzen bleiben.
Benn und Lasker-Schüler waren ständig hier, sie hatten sich zunächst beäugt wie zwei Raubtiere, waren umeinander herumgeschlichen, hatten ihren Hunger gefüttert, in dem sie wochenlang Gedichte des anderen laut vor sich her sagten, wenn sie nachts durch die neugebauten Straßenzüge des Westens heimwärts zogen. »Jeder seiner Verse ein Leopardenbiss, ein Wildtiersprung«, schreibt sie in diesen Tagen über Benn. Else Lasker-Schüler, die um siebzehn Jahre ältere Dichterin, frisch geschieden von ihrem zweiten Mann, in Affären mit allen zentralen Figuren der Berliner Boheme verbandelt, wild behangen mit Schmuck, Fußglocken und orientalischen Gewändern, verfällt auf der Stelle dem steifen Dr. med mit seinem schläfrigen Blick und seinem scheuen, fast unbeteiligten Tonfall, mit dem er wie in seinen Gedichten Ungeheuerliches über den Tod, die Leichen und den Körper der Frau sagen konnte, als bestelle er bloß einen Kaffee. Und Gottfried Benn, noch etwas präpotent und unsicher, verfällt der sinnlichen, reifen Frau mit den Augen, die funkeln wie schwarze Diamanten.
Die beiden Menschen, die sich in diesem
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