1913
sich hier Bahn bricht. Ohne 150 Musiker im Orchester sei das Oratorium nicht zu spielen, erklärte Schönberg. Das Stück selbst ist ein großes, bombastisches, raunendes und schwingendes Naturschauspiel, es geht um Gewitter und um den Sommerwind. Unüberschaubare Chöre besingen die Schönheit der Sonne – so wie sie Schönberg einmal erschienen war als überwältigender Natureindruck, als er nach durchzechter Nacht auf den Anninger gezogen war, einen der Hausberge Wiens.
»In hundert Augen lauert schon die Schadenfreude: heute wird man’s ihm wieder einmal zeigen, ob er sich’s wirklich erlauben darf, zu komponieren wie er will und nicht wie die anderen es ihm vorgemacht haben«, schreibt Richard Specht für den Berliner »März« in seinem Bericht. Doch der Skandal bleibt aus, stattdessen: ein Triumph. »Das jubelnde Rufen, das schon nach dem ersten Teil losbrach, stieg zum Tumult nach dem dritten, … Und als dann der machtvoll aufbrausende Sonnenaufgangsgruß des Chors vorüber war, … kannte das Jauchzen keine Grenze mehr; mit tränennassen Gesichtern wurde dem Tondichter ein Dank entgegengerufen, der wärmer und eindringlicher klang, als es sonst bei einem ›Erfolg‹ zu sein pflegt: er klang wie eine Abbitte. Ein paar junge Leute, die ich nicht kannte, kamen mit schamglühenden Wangen und gestanden mir: sie hätten Hausschlüssel mitgebracht, um zu Schönbergs Musik die ihnen angemessen erscheinende hinzuzufügen, und nun seien sie so ganz von ihm bezwungen worden, dass sie nun nichts mehr von ihm abbringen könne.«
Die »Gurre-Lieder« mit ihren hymnischen, prachtvollen Melodiebögen waren der größte Publikumserfolg, den Schönberg je erleben sollte. Aber Schönberg war auch nie so sehr auf sein Publikum zugegangen wie hier – offenbar auch aus der panischen Angst vor der Katastrophe, die 1913 droht. Die »Gurre-Lieder« sind ein schwelgerisches und verschwenderisches Stück der Spätromantik, melodisch, obwohl ihr Schöpfer längst die Grenzen der Tonalität hinter sich gelassen hatte. Betörende Schönheit, hart am Rande des Kitsches. Es hatte zehn Jahre gedauert, bis Schönberg die richtige Orchestrierung geschrieben hatte, die Komposition selbst stammte jedoch noch von der Jahrhundertwende – und war nun also dreizehn Jahre später genau auf der Höhe des Geschmacks des Wiener Publikums. Wer zu spät kommt, den belohnt das Leben. Die Hausschlüssel, mit denen sie Schönberg niederrasseln wollten, ließen die Zuhörer diesmal in der Tasche. Aber dort werden sie nicht bleiben.
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Es geht weiter Schlag auf Schlag in Wien im Jahre 1913 .
An genau demselben Abend wird das Aufführungsverbot für Arthur Schnitzlers neues Stück »Professor Bernhardi« durchbrochen: In Form einer »Vorlesung« des Stückes im Verein Volksheim am Koflerpark, direkt an der Haltestelle der Elektrischen 8 , »pünktlich um 7 Uhr abends«. Obwohl die k.k. Polizei-Direktion Wien festgestellt hatte: »Wenn auch die Bedenken, die gegen die Aufführung des Werkes vom Standpunkte der Wahrung religiöser Gefühle der Bevölkerung vorliegen, durch Striche oder durch Änderung einiger Textstellen immerhin beseitigt werden könnten, so stellt doch das Bühnenwerk schon in seinem gesamten Aufbau durch das Zusammenwirken der zur Beleuchtung unseres öffentlichen Lebens gebrachten Episoden österreichische staatliche Einrichtungen unter vielfacher Entstellung hierländischer Zustände in einer so herabsetzenden Weise dar, dass seine Aufführung auf einer inländischen Bühne wegen der zu wahrenden öffentlichen Interessen nicht zugelassen werden kann.«
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Nach dem Abend bei den »Gurre-Liedern« trifft sich am Montag um Viertel vor sechs ein illustrer Kreis im Salon von Arthur Schnitzler. Hugo von Hofmannsthal hatte am 21 . Februar zugesagt – »weil es mir eine der größten und reinsten Freuden ist, eine neue Ihrer Arbeiten von Ihrer eigenen Stimme zu hören – und weil ich überhaupt beständig traurig darüber bin, dass ich Sie so wenig sehe. Von Herzen Ihr Hugo«. Schnitzler selbst quält sich durch die Lesung, er hustet und schwitzt, hat starkes Fieber. Schon zu den »Gurre-Liedern« am Abend zuvor hatte er nicht gehen können. Aber ein Arzt taugte noch nie zum Patienten, und so liest er am Montagabend tapfer vor aus »Frau Beate und ihr Sohn«, seiner neuesten Novelle, einer Ödipusgeschichte, an der Freud seine Freude hatte. Es ist ein langer Text, aber Schnitzler hält durch. Eine Frau schläft mit dem Freund
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