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1913

1913

Titel: 1913 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Illies
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der Eisenbahn kann er nicht sitzen, weil er dann einen Menschen direkt gegenüber hätte, vis-à-vis, das hält er nicht aus. Er steht darum immer am Gang, scheu der Blick, gejagt. Schaut ihn jemand an, schwitzt er so stark, dass er das Hemd wechseln muss.
    Doch dann bekommt er im März 1913 plötzlich Post aus Leipzig, vom Kurt Wolff Verlag. Man würde in der neuen Reihe »Der jüngste Tag« gerne einen Gedichtband von ihm drucken. Wird doch noch alles gut?
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    Rainer Maria Rilke hat Schnupfen.
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    Am 9 . März schickt die schwer depressive 32 -jährige Virginia Woolf das Manuskript ihres ersten Romans »The Voyage Out« an ihren Verlag. Sie hatte daran sechs Jahre gesessen. Der 9 . März 1913 ist zufälligerweise genau der Tag, an dem ihre spätere Geliebte Vita Sackville-West volljährig wird, nämlich 21 . Aber jetzt steckt Virginia Woolf noch in ganz anderen, sehr alten Spinnennetzen. Denn der Verleger, an den Virginia Woolf ihr Manuskript schickt, ist ihr Halbbruder Gerald Duckworth. Er hat sie offenbar, wie man heute aus geheimen Tagebuchaufzeichnungen weiß, gemeinsam mit seinem Bruder George als Kind bedroht oder missbraucht.
    »The Voyage Out«, der Roman um die unverheiratete, kinderlose Rachel Vinrace, enthält schon viele zentrale Elemente von Virginia Woolfs späteren Hauptwerken. So taucht bereits eine »Mrs Dalloway« auf, die sich später als Romanheldin selbständig machen wird, und es gibt für Rachel auch ein »Zimmer für sich allein«, wie ein wichtiger Essay Woolfs später heißen wird. In »The Voyage Out« lässt sie ihre männliche Hauptfigur 1913 folgende erschreckende Bilanz aufstellen: »Wir stehen am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, und bis vor wenigen Jahren ist da noch nie eine Frau allein herausgekommen oder hat auch nur den Mund aufgemacht. Da im Hintergrund spielte es sich also ab, all die Tausende von Jahren lang, dies seltsame stumme Leben, das niemals zur Darstellung gelangt. Natürlich schreiben wir ständig über Frauen – schmähen sie oder verhöhnen sie oder verherrlichen sie; doch das ist niemals von den Frauen selbst gekommen.«
    Doch das »stumme, nicht dargestellte Leben« setzte sich fort. Bis 1929 waren erst 479 Exemplare davon verkauft; »The Voyage Out« war für Virginia Woolf eine sehr beschwerliche Reise.
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    Franz Marc will gemeinsam mit befreundeten Künstlern die »Bibel« illustrieren. Er schreibt im März 1913 an Wassily Kandinsky, Paul Klee, Erich Heckel und Oskar Kokoschka. Er selbst, es verwundert kaum, sucht sich die Schöpfungsgeschichte aus und erschafft täglich neue Tiere, blaue Pferde, die keine blauen Reiter brauchen.
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    In Prag tut sich Ungeheuerliches. Franz Kafka schreibt am 16 . März tatsächlich an Felice: »Rund heraus gefragt, Felice: hättest Du Ostern, also Sonntag oder Montag, irgend eine beliebige Stunde für mich frei und wenn Du sie frei hättest, würdest Du es für gut halten, wenn ich komme? Ich wiederhole, es könnte eine beliebige Stunde sein, ich würde in Berlin nichts tun, als auf sie warten.« Felice antwortet sofort mit Ja. Und da 1913 die Post schneller geht als 2013 , schreibt Kafka schon am 17 . März erwartungsgemäß: »Ich weiß nicht, ob ich werde fahren können.« Am 18 . März dann: »
An und für sich
besteht das Hindernis meiner Reise noch und wird, fürchte ich, weiter bestehn, als
Hindernis
aber hat es seine Bedeutung verloren und ich könnte also, soweit dieses in Betracht kommt, kommen.« Am 19. März dann: »Sollte ich doch noch an der Fahrt verhindert werden, würde ich Dir spätestens Samstag telegraphieren.« Am 21 . März die Zementierung der Unsicherheit: »Felice! Und dabei ist es noch gar nicht sicher, ob ich fahre; erst morgen vormittag entscheidet es sich, die Müllerversammlung droht noch immer.« Angeblich, so der wunderbare Vorwand, müsse er wohl von seiner Versicherung aus an Ostern zur Versammlung der tschechischen Müllergenossenschaft. Dann neue Sorgen – und auch, wie bei Musil, Anzeichen von Neurasthenie: »Ich muß mich aber ordentlich ausschlafen, ehe ich vor Dich trete. Wie wenig habe ich wieder diese Woche geschlafen, vieles von meiner Neurasthenie und viele meiner weißen Haare stammen von ungenügendem Schlaf. Wenn ich nur gut ausgeschlafen wäre, wenn ich mit Dir zusammenkomme!« Dann am 22 . März, also dem Tag, an dem er abreisen soll (und auch abreisen wird), schreibt er Felice noch auf den Umschlag die großen Worte: »Noch immer unentschieden. Franz«. Vier

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