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1913

1913

Titel: 1913 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Illies
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Egozentrizität gewesen sein.« Doch was würde der Doktor sagen? Heute würde man es »Burn-Out« nennen, damals sagte man: »Derselbe leidet an den Erscheinungen einer schweren Herzneurose: Anfälle von Herzklopfen mit jagendem Puls, Palpitationen beim Einschlafen, Verdauungsstörungen verbunden mit den entsprechenden psychischen Erscheinungen: Depressionszuständen und mit hochgradiger körperlicher und psychischer Ermüdbarkeit.« 1913 fasste man das zusammen unter dem Begriff: »Neurasthenie«. Spötter sangen: »Raste nie und haste nie, sonst haste die Neurasthenie«. Aber in der Behördenwelt der k.k. Monarchie war das Schlagwort ein sofortiger Freistellungsgrund. So schrieb auf Wunsch der Bibliothek ein Dr. Blanka ein »Amtsärztliches Zeugnis«: »Herr Dr. phil. Ing. Robert Musil kk.Bibliothekar Wien III unt. Weissgerberstraße 61 zeigt erhebliche Erscheinungen von Neurasthenie, infolge deren er berufsunfähig ist.«
    Gleichzeitig mit der Beurlaubung schrieb Franz Blei nach Leipzig an den Kurt Wolff Verlag und erzählte von dem großen, »famosen« Roman, an dem Robert Musil arbeite. Wenn dieser einen »bibliothekslosen Sommer« habe, dann sei bald mit dem Abschluss zu rechnen.
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    Wer bin ich und wenn ja wie viele? Otto Dix malt 1913 das »Kleine Selbstbildnis«, das »Selbstbildnis«, das Gemälde »Köpfe (Selbstbildnisse)«, dann das »Selbstbildnis mit Gladiolen« und natürlich das »Selbstbildnis als Raucher«. Max Beckmann, der große Selbsporträtist, schreibt 1913 in sein Tagebuch: »Wie traurig und unangenehm, sich immer mit sich selbst abgeben zu müssen. Manchmal wäre man froh sich selbst los zu sein.«
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    Bei Picasso haben sich, wie stets mit einer neuen Geliebten, das Leben und die Kunst komplett gewandelt. In diesem Fall war es eine besonders schöne Geschichte: Die große Odaliske, die schwüle Schöne Fernande Olivier, deren Hauptberuf die Laszivität war, betrog Picasso mit dem jungen italienischen Maler Ubaldo Oppi und weihte ihre Freundin Marcelle Humbert ein, die spröde Geliebte des Malers Marcoussis und eine der unbeliebtesten Frauen von Montmartre. Marcelle ließ sich sehr gerne dazu anwerben, Picasso während der Rendezvous von Fernande abzulenken, denn sie war selbst längst vollkommen in Picasso vernarrt. Und bevor er sie zu seiner neuen Herzensdame erwählte, gab er ihr einen neuen Namen: Eva. Vor allem wollte er nicht, dass seine Freundin genauso hieß wie die seines Freundes und zunehmenden Konkurrenten Braque. Eva also wurde für Picasso zum Symbol für die Abkehr von der ersten Phase des Kubismus, hin zum synthetischen Kubismus. Er scheint in Eva die Chance gesehen zu haben, mit Anfang dreißig zu verbürgerlichen, ein wenig der Boheme zu entfliehen, die ihn vom Arbeiten abhielt. Und so zogen die beiden als Erstes von Montmartre nach Montparnasse, wohin auch die neue Linie 12 der Pariser Métro fuhr. Während Montmartre der Ort für die mittellosen Künstler blieb, die Opiumraucher, die Prostituierten und die zwielichtigen Varietés, wurde Montparnasse zum neuen Ort der erfolgreicheren Akteure der Pariser Kreativbranche. Mit den Worten des großen Impresarios Apollinaire: »In Montparnasse findet man dagegen die wahren Künstler, nach amerikanischer Art gekleidet. Einige von ihnen mögen die Nase ins Kokain stecken, aber das macht nichts.«
    Der 31 -jährige Picasso und Eva bezogen 1912 eine Wohnung und ein Atelier in einem kaum zehn Jahre alten Komplex, dem Boulevard Raspail 242 . Dann stellte Picasso die neue Freundin im Januar 1913 sogar seinem Vater in Barcelona vor. Don José, der einstmals herrische Familienpatron, hatte offenbar weder etwas gegen Eva noch gegen Pablos synthetischen Kubismus – was aber vermutlich damit zusammenhing, dass er fast vollständig erblindet war. Schon als sich Picasso und Eva kennenlernten, waren sie nach Céret in den Pyrenäen geflüchtet. Und nun, am 10 . März 1913 , taten sie es wieder. Picasso wollte der Großstadt und ihrer Künstlerszene entfliehen, um endlich arbeiten zu können. Sie atmeten tief durch, als sie den Bergort erreichten, setzten sich in das Straßencafé und genossen einen Kaffee, als die Sonne frühlingshaft zu glühen begann. Sofort mieten sie das Maison Delcros und richten sich darauf ein, bis zum Herbst zu bleiben. Schon zwei Tage später schickt er zwei muntere Postkarten an seine wichtigsten Förderer: seinen Kunsthändler Kahnweiler, mit dem er im Dezember 1912 einen lukrativen Exklusivvertrag

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