1913
Worte, eine Autobiographie.
Man kann es kaum glauben, aber der nächste Brief von Franz Kafka an Felice Bauer trägt tatsächlich den Briefkopf des Hotels »Askanischer Hof, Berlin«, von wo er am frühen Morgen des Ostersonntags in panischer Weise schreibt: »Was ist denn geschehn, Felice? Du mußt doch Freitag meinen Expressbrief bekommen haben, in dem ich meine Ankunft für Samstag nacht anzeigte. Es kann doch nicht gerade dieser Brief verlorengegangen sein. Und nun bin ich in Berlin, muss nachmittag um 4 oder 5 wegfahren, die Stunden vergehn und ich höre nichts von Dir. Bitte schicke mir Antwort durch den Jungen. Kannst mich, wenn es unauffällig geht, der Sicherheit halber auch antelephonieren, ich sitze im Askanischen Hof und warte. Franz.« In der Osternacht war er angekommen am Anhalter Bahnhof, hatte wohl gehofft, sie am Bahngleis zu sehen, auf dass sie gemeinsam ihre Auferstehung feiern würden. Aber sie kam nicht. Unruhig lief er die Bahnsteige ab. Setzte sich dann in die Wartehalle, damit er sie ja nicht verpasste. Geht dann nach unendlichen Minuten des Wartens doch und fährt zum Hotel. Findet keinen Schlaf. Kaum dämmert der Tag, springt er auf, rasiert sich. Doch immer noch kein Zeichen von Felice.
Es ist Ostersonntag in Berlin. Franz Kafka sitzt in seinem Hotelzimmer, draußen trübes Wetter, er knetet seine Hände, starrt auf die Tür, ob wohl ein Bote kommt, und starrt aus dem Fenster, ob wohl ein Engel kommt.
Dann irgendwann muss sie sich gemeldet haben. Sie hat gute Nerven. Sie fahren raus in den Grunewald. Sitzen nebeneinander auf einem Baumstamm. Das ist alles, was wir wissen. Es ist eine sonderbare Leerstelle in diesem Doppelleben – nachdem man monatelang jeden Atemzug und jeden Tag in zwei bis vier Briefen gespiegelt sah, nun plötzlich: nichts.
Am 26 . März schreibt ihr Kafka aus Prag: »Weißt Du, dass Du mir jetzt nach meiner Rückkehr ein unbegreiflicheres Wunder bist als jemals?« Das ist alles, was wir wissen über jenen Sonntag in Berlin. Ein Osterwunder, immerhin.
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Das ist das Leben von Kafka in jenem März 1913 . Aber es gibt ja auch noch das »Werk«. Und also schreibt Kurt Wolff aus Leipzig, der in jenem Frühjahr im Mittelpunkt der gesamten deutschsprachigen Literatur steht: »Herr Franz Werfel hat mir so viel von Ihrer neuen Novelle – heißt sie ›Die Wanze‹ – ? erzählt, dass ich sie gern kennenlernen möchte. Wollen Sie sie mir schicken?« Die berühmteste deutschsprachige Erzählung des 20 . Jahrhunderts heißt »Die Wanze«? Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwacht, fand er sich in eine Wanze verwandelt? Natürlich nicht. Also schreibt Kafka an Wolff: »Glauben Sie Werfel nicht! Er kennt ja kein Wort von der Geschichte. Bis ich sie ins Reine werde haben schreiben lassen, schicke ich sie natürlich sehr gerne.« Und dann: »Die andere Geschichte, die ich habe, ›die Verwandlung‹ ist allerdings noch gar nicht abgeschrieben.« So also kam »Die Verwandlung« in die Welt.
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Robert Musil wohnt mit seiner Frau in Wien im Dritten Bezirk, Untere Weißgerberstraße 61 . Er ist ein Mann mit sehr vielen Eigenschaften. Er ist gepflegt, durchtrainiert, seine Schuhe sind die glänzendsten aller Wiener Kaffeehäuser, und eine Stunde pro Tag stemmt er Hanteln und macht Kniebeugen. Er ist ungeheuer eitel. Aber von ihm geht auch die ruhige Kraft der Selbstdiszplinierung aus. In einem eigenen kleinen Büchlein notiert er jede einzelne Zigarette, die er raucht; wenn er mit seiner Frau geschlafen hat, setzt er ein »C« ins Tagebuch, für Coitus. Ordnung muss sein.
Aber im März 1913 kommt er an deren Ende. Er hält seine Arbeit als Bibliothekar II . Klasse an der Technischen Hochschule Wiens in ihrem Stumpfsinn nicht mehr aus. Er fühlt sich sehr klein und schwach und gleichzeitig zu Höherem berufen, zu einem Jahrhundertroman. Aber er ist sich nicht ganz sicher, ob das nur ein Zeichen dafür ist, dass er langsam aber sicher durchdreht. Oder ob er seinen Dienst quittieren sollte.
Am 30 . März bekommt er endlich einen Termin beim Nervenarzt Dr. Otto Pötzl. Er wartet zwei Stunden. Dann schenkt er dem Doktor erst einmal sein erstes Buch »Die Verwirrungen des Zöglings Törleß«. Er schreibt hinein: »Herrn Dr. Pötzl zur freundlichen Erinnerung«. In den Tagen seines zunehmenden Leidens tröstet ihn die Erinnerung an die Zeiten Dantes. In sein Tagebuch notiert er: »Aber was 1913 zur Geisteskrankheit wird, kann 13 … eine bloße
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