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1913

1913

Titel: 1913 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Illies
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sie nicht stehen lassen, und sie fand keinen Ausweg aus der Unterhaltung. Jede halbe Minute schläft die Konversation mit ihr ein, und man muss die arme Dame, wie eine abgelaufene Uhr, wieder aufziehen, was aber auch wieder immer nur auf dreißig Sekunden weiterhilft.« Kriegsgefahr übrigens, so vertraut er seinem Tagebuch an, bestehe nicht, wie er gehört hat: »Die europäische Lage habe sich seit anderthalb Jahren vollkommen gedreht. Die Russen und Franzosen seien gezwungen, friedlich zu sein, da sie auf die Unterstützung Englands nicht mehr rechnen können.« Na dann.
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    Thomas Mann schreibt im März 1913 einen Brief an Jakob Wassermann: »Die Begegnung des Pflichtvergessenen mit dem Pflichtbesessenen im Kriege ist eine tief dichterische Erfindung. Und wie streng und groß wird der Krieg als moralische Reinigungskrisis, als grandioses Hinwegschreiten des Lebensernstes über alle sentimentalen Verwirrungen fühlbar!« Der Krieg, über den Thomas Mann da redet, ist der von 1870 / 71 .
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    Nun aber schalten wir zu Arnold Schönberg, diesem großen Charismatiker, der an der Grenze zwischen Spätromantik und Zwölftonmusik entlangkomponierte.
    Er war nach Berlin gezogen, weil er sich in Wien nicht verstanden fühlte. Im Telefonbuch stand: »Arnold Schönberg, Komponist und Kompositionslehrer, Sprechstunden 1 – 2  Uhr«. Er hatte eine Wohnung in der Villa Lepcke in Zehlendorf, und an einen Freund in Wien schrieb er: »Sie glauben gar nicht, wie berühmt ich hier bin.«
    Doch dann fährt er Ende März nach Wien. Und wird auch dort so berühmt wie in Berlin. Aber etwas anders, als er es sich vorgestellt hat. Im großen Saal des Musikvereins soll er am Abend des 31 . März eine eigene Kammersinfonie, Mahler sowie Stücke seiner Schüler Alban Berg und Anton von Webern dirigieren (die beiden Schüler übrigens hatten zu Hause stolz ein Porträt hängen, das Schönberg von ihnen gemalt hatte). Und Alban Bergs Musik ist es, die für den Eklat sorgte. »Lieder mit Orchester nach Ansichtskartentexten von Peter Altenberg op. 4« hat er in bester Pop-Art-Manier sein Stück genannt – aufgeführt von einem riesigen Orchester und mit größtem Ernst. Das bringt das Publikum zur Weißglut, es wird gezischt, gelacht, mit den Schlüsseln geklappert, die alle schon im Februar zu Schönbergs letztem Auftritt mitgebracht hatten, aber nicht brauchten. Da springt Anton von Webern auf und schreit, die ganze Bagage solle nach Hause gehen, worauf die Bagage schreit, wer solche Musik möge, gehöre nach Steinhof. Steinhof, das ist die Irrenanstalt, in der sich Peter Altenberg gerade befindet. Die Diagnose des Publikums: Verrückte Musik zu Texten eines Verrückten. (Es gibt allerdings, das muss man sagen, ein Foto von Altenberg mit seinem Pfleger Spatzek aus Steinhof aus diesen Tagen, und da blickt Altenberg sehr cool und gelassen in die Kamera, man hat den sehr starken Eindruck, es sei Spatzek, der Pfleger, der verrückt ist. Altenberg schreibt dazu »Der Irrsinnige und der Irrenwärter«, es bleibt unklar, wer wer ist.)
    Schönberg klopft ab und ruft ins Publikum, er werde jeden Ruhestörer mit Gewalt abführen lassen, worauf es zu Tumulten kommt, Duellforderungen werden in Richtung des Dirigenten gebrüllt, und einer steigt von ganz hinten über die Parkettreihen. Als er vorne angekommen ist, ohrfeigt Oscar Straus, Komponist der Operette »Ein Walzertraum«, den Präsidenten des »Akademischen Verbandes für Literatur und Musik«, Arnold Schönberg.
    In der »Neuen Freien Presse« erschien am nächsten Tag folgender Bericht: »Die fanatischen Anhänger Schönbergs und die überzeugten Gegner seiner oft äußerst befremdlichen Klangexperimente sind schon zu wiederholten Malen hart aneinandergeraten. Zu einer Szene aber, wie sie sich in dem heutigen Konzert des Akademischen Verbandes ereignet hat, ist es unseres Erinnerns in einem Wiener Konzertsaale kaum je zuvor gekommen. Die erregt streitenden Gruppen zu trennen, blieb nicht anderes, als die Lichter auszulöschen.« Vier Personen wurden von der Polizei festgenommen, ein Student der Philosophie, ein praktischer Arzt, ein Ingenieur und ein Jurist. Der Abend ging als »Watschenkonzert« in die Geschichte ein.
    Aber die Zeitgenossen, vor allem Arthur Schnitzler, der mit seiner Frau Olga das Konzert besuchte, sahen das ganz lakonisch: »Schönberg Orchesterconcert. Ungeheure Skandale. Alban Berg’s alberne Lieder. Unterbrechungen. Gelächter. Rede des Präsidenten. ›Hören Sie

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