1913
Reptilienkopf, die Augenlider, auf denen Jahrhunderte zu lasten scheinen. Und unten an seiner Brust trägt der Nibelunge einen orientalischen Stern als Schmuck. Es erscheint in der »Aktion« vom 25 . Juni 1913 – darunter Lasker-Schülers Text über »Dr. Benn«: »Er steigt hinunter ins Gewölbe seines Krankenhauses und schneidet die Toten auf. Ein Nimmersatt, sich zu bereichern am Geheimnis. Er sagt: ›tot ist tot.‹ Er ist ein evangelischer Heide, ein Christ mit dem Götzenhaupt, mit der Habichtsnase und dem Leopardenherzen.« Direkt daneben erschien ein Gedicht von Benn, der achte Teil seines »Alaska«-Zyklus, der schon im Titel klarmachen will, dass es hier um Verhaltenslehren der Kälte geht. Und der Einfachheit halber heißt sein erstes Liebesgedicht auf die vergötterte Dichterin »Drohungen«.
Ich treibe Tierliebe
In der ersten Nacht ist alles entschieden
Man faßt mit den Zähnen, wonach man sich sehnt
Hyänen, Tiger, Geier sind mein Wappen.
Die Antwort von Else Lasker-Schüler erscheint in der nächsten Ausgabe des »Sturm« unter dem Titel »Giselheer der Tiger«: »Ich trag dich immer herum / Zwischen meinen Zähnen.« Und die ganze Berliner Kunstszene schaut zu, wie sich die beiden Sonderlinge öffentlich feiern. Der Herr Doktor mit dem engen Krawattenknoten und den guten Manieren, dessen Hände immer nach dem Desinfektionsmittel riechen, mit dem er sich die Hände wäscht, die gerade noch in den Leichen gegraben haben. Und die zweifach geschiedene Alleinerziehende mit ihren zerschlissenen Gewändern, Hals und Arme behängt mit unechtem Schmuck, Ketten und Ohrringen. Und da sie sich ohne Unterlass eine widerborstige Strähne aus der Stirn strich, war stets ein großes Geklapper und Geklimper um sie. »Man konnte weder damals noch später mit ihr über die Straße gehen, ohne dass alle Welt stillstand und ihr nachsah«, schrieb Benn später einmal. Und wenn sie nicht gemeinsam durch die Straßen zogen, druckten sie ihre flammenden Bekenntnisse füreinander, ihr Werben und ihr Abstoßen. Else Lasker-Schülers größter Triumph war, als Benn sich in ihrem Reich ansiedelte. Er wurde König Giselheer am Hofe des Prinzen Jussuf – er hatte schon im Sommer 1912 in den Militärakten etwas von einer »Wanderniere« phantasiert, die es ihm unmöglich mache, zu Pferd über die Felder zu reiten. Es gab eine solche Niere weder zu seinen Zeiten noch heute, Benn hat auch nie darunter gelitten, und doch half diese Erfindung ihm, seine innere Unruhe in eine poetische Diagnose zu verwandeln. Benn brach aus aus seiner Welt des Militärs, zog mit der Geliebten durch die Nacht, stieg in Dachkammern und in die Keller, lernte zu lieben, lernte zu leben. Als die Winternächte in den Cafés und den Mansarden und Hauseingängen vorbei sind und der Frühling ausbricht in Berlin wie ein Fiebervirus, da kann man sich die beiden vorstellen, wie sie am Ufer der Havel sitzen, im Schilf, unter dem Mond, sie spielt mit seinen Händen, er spielt mit ihren Haarsträhnen, und dann dichten sie: »Oh ich lernte an deinem süßen Mund zuviel der Seligkeiten kennen.«
Am Ende dann aber, als die Schlacht geschlagen ist, wird sie dichten: »Ich bin ein Krieger mit dem Herzen, er mit dem Kopf.« Das große protestantisch-jüdische Versöhnungsprojekt, zu dem sie ihre Liebe stilisierten, hier Jussuf oder Prinz von Theben, wie sie sich nannte, dort die Nibelungen, ist gescheitert. »Nibelungentreue« bedeutete für sie sinnlose Treue für das Falsche. Sie wusste also von Anfang an, worauf sie sich einließ mit diesem Doktor mit dem stechenden Blick und den Geheimratsecken. Doch als es geschieht, wirft sie das aus der Bahn wie kein anderer Mann vor ihm und nach ihm. Sie wusste, dass sie die Prophetin des jüdischen Volkes war – und sie brauchte den Doktor Benn mit seiner Pomade im Haar und den Gamaschen an den Füßen als perfektes Gegenbild zu ihrer orientalischen Welt, als Verkörperung des Germanischen. Doch der junge Nibelunge zieht weiter, und die ältere Jüdin bleibt verzweifelt zurück. Sie wird von ständigem Fieber erfasst, Unterleibsentzündungen, Schmerzen, Dr. Alfred Döblin wird ihr im Herbst 1913 gegen die von Dr. Gottfried Benn zugefügten seelischen Schmerzen Morphium verschreiben.
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Und so schreibt Franz Kafka über Else Lasker-Schüler an seine ferne Felice: »Ich kann ihre Gedichte nicht leiden, ich fühle bei ihnen nichts als Langeweile über ihre Leere und Widerwillen wegen des künstlichen Aufwandes.
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