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1913

1913

Titel: 1913 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Illies
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von Dir erhalten habe.«
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    Die Liebesgeschichte zwischen dem Pfarrerssohn Gottfried Benn und der jüdischen Dichterin Else Lasker-Schüler, die zeitgleich zu seinen Todestänzen der »Morgue« ihre schwärmerischen »Hebräischen Balladen« veröffentlicht hatte, durchzieht das ganze Frühjahr 1913 . So schreibt Else am 3 . Mai 1913 an Franz Marc nach Sindelsdorf: »Ich hab mich doch wirklich wieder verliebt.« Und zwar in: Dr. Benn.
    Innerhalb kurzer Zeit war Marc, den sie erst im Dezember 1912 kennengelernt und der sie schon kurz darauf in seine Provinzidylle nach Sindelsdorf eingeladen hatte, zur Vertrauensperson von Lasker-Schüler geworden. Sie nannte ihn nicht nur ihren »Blauen Reiter«, sondern vor allem auch »Halbruder Ruben«. So nah kam ihr in ihrem orientalischen Phantasiereich verwandtschaftlich niemand. Karl Kraus war ihr »Dalai Lama«, ihren Ehemann tauft sie von Georg Lewin auf »Herwarth Walden« um (als er sie verließ, behielt er wenigstens diesen Namen), Oskar Kokoschka ist der »Troubadour« am Hofe, Kandinsky der »Professor«, Tilla Durieux die »schwarze Leopardin« – und Benn wird zum »Giselheer«, zum Nibelungen, zum Heiden, zum Barbar.
    Die exaltierte Euphorikerin, die chaotisch Entflammte Lasker-Schüler packte die Männer, die Testosteron in ihren Adern hatten, an ihrem poetischen Herzen – und trieb sie zu ungeahnten Höhen. Die von zu viel Weiblichkeit verängstigten Männer aber, Rainer Maria Rilke und Franz Kafka zum Beispiel, verschreckte sie mit ihrer wallenden Weiblichkeit und trieb sie in die Flucht. Und die Frauen ihrer Zeit verachteten diese ungepflegte Femme fatale tagsüber für ihre Nachlässigkeit, ihre Verantwortungslosigkeit, ihre Zügellosigkeit – und bewunderten sie heimlich vom einsamen Lehnstuhl aus, abends, wenn ihre Männer einen trinken gegangen waren und sie in einer Zeitschrift blätterten. Nur Rosa Luxemburg bewunderte sie vorbehaltlos und zog in den heißen Sommermonaten des Jahres 1913 demonstrierend mit ihr durch die Straßen.
    An einem Maiabend also schrieb Else Lasker-Schüler an Franz Marc eine Verliebtheitsanzeige in Sachen Benn: »Wenn ich mich tausendmal verliebe, ist es immer ein neues Wunder, eine alte Natur der Sache, wenn sich ein anderer verliebt. Du, er hatte gestern Geburtstag. Ich schickte ihm eine Schachtel voll Geschenke. Er heißt Giselheer. Er ist aus den Nibelungen.« Marc jedoch, von seiner Gattin daran gehindert oder aber selbst bereits zu erschöpft von den Eskapaden seiner anstrengenden Freundin aus Berlin, braucht ein paar Monate für den Antwortbrief. Worauf ihm also Else postwendend zurückschreibt: »Du freust Dich über meine ›Neue Liebe‹ – Du sagst das so leicht hin und ahnst nicht, dass Du eher mit mir weinen müsstest – denn – sie ist schon verloschen in seinem Herzen, wie ein bengalisches Feuer, ein brennendes Rad – es fuhr mal eben über mich.« Merke: Antworte schnell, wenn Du Else Lasker-Schüler zu einer neuen Liebe gratulieren willst, sonst ist es schon eine vergangene.
    Es war also zwischen Gottfried Benn und Else Lasker-Schüler zunächst so, als rasten ein D-Zug und ein Orient-Express aufeinander zu und verkeilten sich ineinander zu kunstvollen, dampfenden Gebilden aus Stahl und Blut. Am Ende, im Herbst, aber bleiben nur Trümmer und kalter Rauch. In den neun Monaten dazwischen entstehen einige der schönsten deutschen Liebesgedichte des zwanzigsten Jahrhunderts.
    Wir wissen alles über diese Liebe und wir wissen nichts. Denn die Daten sind unklar, umstritten, der Anfang in Berlin liegt genauso im Dunkel wie das Ende im Herbst, vielleicht auf Hiddensee – und doch wissen wir alles über ihre Gefühle, weil sie ihre Liebe als öffentliche Lovestory inszenieren, mit Gedichten aufeinander, füreinander, übereinander, die im »Sturm« erscheinen, der »Fackel« und der »Aktion«, den maßgeblichen Zeitschriften jener Zeit. Benn ist darin der »Affenadam«, hingezogen zu der »Bräunlichsten«, zu seiner »Ruth«, der archaischen Frau. Es ist eine beispiellose Anziehung, die beide erfasst, es folgen Kämpfe, Abgrenzungsschlachten, heiße Schwüre, Verletzungen, Tatzenhiebe. Als es losgeht, schreibt sie: »Der hehre König Giselheer / Stieß mit seinem Lanzenspeer / Mitten in mein Herz.«
    Mit ihrem einzigartigen Blick für das Wesentliche gelingt ihr eines der schnellsten und klarsten Porträts, das es von Benn gibt, eine Tuschelinie, in Sekunden übers Blatt gezogen, die Hakennase, der große

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