1913
paar Tische, Bücher, ein Bett. Immer hörte man irgendwo eine Sekretärin auf eine Remington-Schreibmaschine eintippen. Unter Hochdruck schrieb Rudolf Steiner hier Vortrag um Vortrag, stundenlang ausgefeilte Thesen über den Zustand der Seelen und der Welt, das Christentum, den Geist des 19 . Jahrhunderts, und nebenher war sein »Büro« damit beschäftigt, die Vortragsreisen quer durch ganz Europa zu organisieren. Fast zwei Drittel des Jahres waren Steiner und Marie von Sivers unterwegs – wenn Steiner in Berlin war, pilgerten die Menschen in die Motzstraße, um sich Hilfe und Erleuchtung vom Meister zu erbitten. Tagelang hält er Sprechstunde, seltsam unfeierlich ist das Ambiente, die Besucher warten auf Polsterstühlen, dann kommen sie in ein kleines Zimmer, wo Steiner meist zwischen den noch unausgepackten Koffern der letzten Reise sitzt. Und doch gewinnt er sie alle durch seine Empathie, seine Zugewandtheit. Sie wollen ja alle nur verstanden werden in ihrem Weltschmerz, der sich als Neurasthenie tarnt. Wir wissen, dass Hermann Hesse einer jener Erlösungswilligen war, die eine Audienz bei Steiner erhielten, Franz Kafka ebenso. Und dank Robert Gernhardt wissen wir sogar ziemlich genau, wie diese kurzen Treffen abgelaufen sein könnten: »Kafka sprach zu Rudolf Steiner: / ›Von Euch Jungs versteht mich keiner‹ / Darauf sagte Steiner: »Franz, / ich versteh Dich voll und ganz.«
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Endlich ist das Frühjahr da. Der Studienrat Friedrich Braun und seine Frau Franziska schieben stolz den Kinderwagen durch den Münchner Hofgarten, im Dezember waren sie Eltern einer kleinen Eva geworden. Eva Braun ist sechs Monate alt, als der 24 -jährige Adolf Hitler am Sonntag, dem 25 . Mai, München erreicht.
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An dem Sonntagmorgen, an dem Hitler Wien verlässt, ist die Stadt in Schockstarre: Einer der höchsten Militärs und Geheimdienstler der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, Oberst Alfred Redl, war in der Nacht der Spionage überführt worden und hatte sich daraufhin um 1.45 Uhr in seinem Hotelzimmer erschossen. Die Pistole hatte man ihm aufmerksamerweise ins Zimmer gelegt, das Zimmer Nummer 1 im Hotel Klomser, wo er immer abstieg, im Tausch gegen seine Unterschrift auf dem Papier, in dem er sich schuldig bekannte. Und Redl, entehrt, lässt die kaiserlichen Geheimdienstmitarbeiter in Ruhe das Zimmer verlassen, dann drückt er ab. Als Kaiser Franz Joseph morgens um vier Uhr beim Aufstehen von dem Ausmaß der Militärspionage Redls und den Ereignissen der Nacht erfährt, seufzt er tief: »Das also ist die neue Zeit? Und das sind die Kreaturen, die sie hervorbringt? In unseren alten Tagen wäre so etwas nicht einmal denkbar gewesen.« In den Zeitungen lässt man die Meldung platzieren, die den Schein zu wahren versucht: »Der Generalstabschef des Prager Armeekorps, Oberst Alfred Redl, hat sich in einem Anfall von Sinnesverwirrung das Leben genommen. Der hochbegabte Offizier, dem eine große Karriere bevorstand, hat in der letzten Zeit an Schlaflosigkeit gelitten.« So versuchte man die erschreckende Nachricht, dass einer der einflussreichsten Generäle Österreich-Ungarns alle Militärpläne an den Feind verraten hatte, in einen Selbstmord aus Schlaflosigkeit zu verpacken. Aber Wien hat nicht mit Egon Erwin Kisch, dem jungen Reporter der Zeitung »Bohemia«, gerechnet. Kisch wartet an diesem Sonntag, beim Auswärtsspiel seiner Fußballmannschaft »Sturm« bei »Union-Holeschowitz« vergeblich auf seinen torgefährlichsten Mann, den Schlosser Hans Wagner. Als der sich dann am Montag dem Kapitän erklärt und herumdruckst, erfährt Kisch, dass Wagner am Sonntagmorgen vom Militär aufgefordert wurde, eine Privatwohnung im Hauptquartier des Armeekorps aufzubrechen. Dort habe er seltsame Sachen gesehen, Damentüllkleider, parfümierte Draperien, rosafarbene Seidendecken. Geschickt lancierte Kisch einen Artikel in einer Berliner Zeitung über die wahren Hintergründe des Todes von Oberst Redl, die er dank seines Fußballkollegen recherchiert hatte. Und so muss schon am Donnerstag, dem 29 . Mai, die »Militärische Rundschau« des Kriegsministeriums die ganze Wahrheit bekannt geben: »In der Nacht von Samstag, 24 ., auf Sonntag, den 25 . dieses Monats, hat der gewesene Oberst Redl durch Selbstmord geendet. Redl hat die Tat vollführt, als man im Begriff war, ihn folgender schwerer und außer Zweifel gestellter Verfehlungen zu überweisen: 1 . Homosexueller Verkehr, der ihn in finanzielle Schwierigkeiten brachte. 2
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