1913
Auch ihre Prosa ist mir lästig aus den gleichen Gründen, es arbeitet darin das wahllos zuckende Gehirn einer sich überspannenden Großstädterin. Ja, es geht ihr schlecht, ihr zweiter Mann hat sie verlassen, soviel ich weiß, auch bei uns sammelt man für sie; ich habe 5 K. hergeben müssen, ohne das geringste Mitgefühl für sie zu haben; ich weiß den eigentlichen Grund nicht, aber ich stelle sie mir immer nur als Säuferin vor, die sich in der Nacht durch die Kaffeehäuser schleppt.«
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Die Mona Lisa ist noch immer spurlos verschwunden. J. P. Morgan, der amerikanische Milliardär, bekommt Post von einem Verrückten, der mit »Leonardo« unterzeichnet und sagt, er wisse, wo das Bild ist. Morgans Vorzimmerdame wirft den Brief weg.
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»Das Leben ist zu kurz und Proust zu lang«, schreibt Anatole France 1913 in wunderbarer Präzision zur Veröffentlichung des ersten Bandes von »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Ihm erschien also Proust bereits als »zu lang«, als die restlichen sechs Bände noch gar nicht erschienen waren. Niemand, auch Proust selbst nicht, ahnte, wohin Prousts akribische Suche nach den Untiefen der Erinnerung noch führen sollte. Das Buch als Versuch, die Vergangenheit in Sprache bannen zu können – gegen die rennende Zeit.
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In Wien ist Sigmund Freud ergriffen von seinem eigenen Buch: »Ich schreibe jetzt am Totem mit der Empfindung, dass es mein Größtes, Bestes, vielleicht mein letztes Gutes ist.« Und es ist etwas ganz Gewaltiges, das er sich vorgenommen hat. Der letzte Satz lautet: »Am Anfang war die Tat.« So will er dem biblischen »Am Anfang war das Wort« endlich entgegentreten und seine neue Zivilisationstheorie begründen. Der Urmoment der Entwicklungsgeschichte, so sieht es Freud im Frühjahr 1913 , ist der Vatermord des Ödipus. Er schreibt im Mai an einen Vertrauten: »Vor dem Kongreß, im Augustheft der Imago, soll die Sache erscheinen und dazu dienen, alles was arisch-religiös ist, reinlich abzuschneiden«. Nach seinem Bruch mit C. G. Jung und der Zürcher Gruppe der Psychoanalytiker sieht Freud das ganze Jahr über mit bangem Blick auf den September, wo der besagte »Kongreß« der Psychoanalytischen Gesellschaft stattfinden soll, der die verfeindeten Gruppen erstmals wieder an einen Tisch zwingen wird. Und Freud weiß, dass die antichristliche Theorie in »Totem und Tabu«, an der er fieberhaft arbeitet, den Bruch mit Jung und seinen Jüngern besiegeln wird.
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Rudolf Alexander Schröder reist im Frühsommer 1913 nach Italien, wo er mit Rudolf Borchardt in den Apuanischen Alpen, hoch über dem bewaldeten Serchiotal, ein altes Bauernhaus bewohnt. Borchardt schreibt, während er sich mit Schröder unterhält, aus dem Stegreif auf eine Postkarte ein griechisches Distichon in dorischer Mundart als einen scherzenden Gruß an Hugo von Hofmannsthal. »Ich«, so schrieb Rudolf Alexander Schröder, »war froh, die Verse halbwegs zu verstehen, ihm stand das tote, entlegene Idiom zu Gebot wie die eigene Sprache.« Und Hofmannsthal, so darf man ergänzen, versteht die Postkarte so schnell, als spreche er mit einem Wiener Bierkutscher (mit dem er allerdings, das stimmt, nie geredet hätte).
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Anfang Mai schreibt Rudolf Steiner an seine Mutter: »Und der Krieg droht fortwährend zu kommen.« Aber er hat keine Zeit, sich darum zu kümmern. Er will endlich eine Zentrale der Anthroposophie, den sogenannten Johannesbau, errichten.
Und nachdem die Pläne, dieses Gebäude in München zu erstellen, nun endgültig an der Baukommission gescheitert sind, spricht er am 18 . Mai zu seinen Anhängern in Stuttgart und erklärt ihnen, dass man jetzt mit allem Neuen München unbedingt meiden sollte, da die Stadt etwas Absterbendes habe (wenn das Oswald Spengler gehört hätte in seiner Münchner Schreibkammer, wo er am »Untergang des Abendlandes« schrieb, er hätte vor Freude gejuchzt).
Steiner also erklärt: »Neue Kulturen konnten niemals in dieses Absterbende sich hineinstellen.« Längst spürte er, dass Dornach bei Basel der Ort für das Aufblühende sein sollte. Aber noch war es zu früh dafür.
Bislang stand die Zentrale der Anthroposophie in Berlin im Hinterhaus der Motzstraße 17 . Dort lebte Rudolf Steiner mit seiner Ehefrau Anna, er aber bestand darauf, dass seine Getreue und Geliebte Marie von Sivers mit einziehen sollte, was natürlich nicht lange gut ging. Es herrschte in dem gesamten Hinterhaus eine gewisse Start-Up-Atmosphäre: Kaum Einrichtung, ein
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