1913
zunehmend gefällt in Heiligendamm, was auch daran liegt, dass hier das Wetter besser ist als im Rest des Landes, immer wieder vertreibt der Seewind die Wolken, und vor Rilkes Augen am Strand spielen sich schönste Schauspiele flatternder Gewänder und impressionistische Gruppenbilder ab. Im Strandstuhl sitzend, die Beine übereinandergeschlagen, Gedichte von Goethe lesend oder von Werfel, diesem jungen Heißsporn, dem er gerade völlig erlegen ist, das behagt Rilke.
Es gefällt ihm also zunehmend, was aber weniger an Helene von Nostitz liegt, die ihm, wie alle seine Frauen, aus der Ferne sehr verlockend erschien, aus der Nähe aber fordernd und an den Nerven zerrend. Er weiß jedoch, wie er ihr entfliehen kann, ohne von ihrer Eifersucht eingeschnürt zu werden, und erklärt: »Mich drängt’s zur Unbekannten.« Herrn von Nostitz, dem das Geplänkel seiner Frau mit dem skurrilen Dichter ein Dorn im Auge war, wird’s gefreut haben. Und so geht Rilke also auf sein Zimmer und versucht – ganz im Ernst – übersinnlichen Kontakt zu seiner »Unbekannten« aufzunehmen.
Er hatte die Dame bei den Séancen mit Marie von Thurn und Taxis in Duino näher kennengelernt und damals hatte ihm diese Unbekannte den Auftrag gegeben, in Toledo einen Schlüssel oder Ring von der Brücke in den Fluss zu werfen. Und da er ohnehin endlich einmal nach Spanien wollte, nahm er diesen Auftrag sehr ernst und ließ sich die Reise Erster Klasse von der Fürstin bezahlen. Rilkes unruhiger und aufwändiger Lebensstil fußte auf permanenten Zuwendungen eines Kreises potenter Damen – um sie bei Laune zu halten, baute er zu jeder von ihnen einen intensiven Briefverkehr auf, täglich versandte er mehrere seiner taubenblauen Briefe in die Schlösser und Hotels Mitteleuropas. Er wirbt um Geld, um Verständnis, um Zuneigung, um eine Ehefrau. Aber natürlich schreckt er auch davor zurück – nicht vor dem Geld, nicht vor dem Verständnis oder der Zuneigung, das nahm er alles gerne. Nur vor der Frau. Es war ihm lieber, er hielt sie brieflich auf zärtliche Distanz. Darin wurde er deutscher Meister. So auch jetzt in Heiligendamm. Am 1 . August schreibt er einen seiner großen Briefe an Sidonie Nádherný, deren Bruder sich erschossen hat und die in der Trauer darüber fast erstickt. Mit dem Füller trocknet er die Tränen ihrer Seele wie mit einem edlen Taschentuch und rät zur praktischen Trauerarbeit: Sie solle auf dem Klavier Beethoven spielen, das würde helfen, und zwar »noch heute Abend«.
Dann wendet er sich wieder seiner übersinnlichen Beziehung zu. Wir wissen leider nicht, was die »Unbekannte« Rilke in Heiligendamm befahl. Auf jeden Fall bleibt er dort auch, als Helene von Nostitz schon wieder abgereist ist. Aber es sind wohl eher sinnliche, als übersinnliche Gründe: Denn er hatte Ellen Delp getroffen, eine von Lou Andreas-Salomés Wahltöchtern, eine junge Schauspielerin von Max Reinhardt, die sich im nahen Kühlungsborn erholt. Kaum ist Helene mit dem Zug nach Bad Doberan gereist, schreibt er am Nachmittag des 14 . August: »Liebe Lou’s Tochter, ich bin gekommen, Ihnen die Hand zu reichen.« Und das tut er dann auch, fern der Bekannten und der Konventionen, scheint es hier in Heiligendamm für Rilke mit Ellen Delp für eine halbwegs unkomplizierte Affäre zu reichen. Nach dem ersten Spaziergang unter den hohen Buchen dichtet er:
Hinter den schuldlosen Bäumen
Hinter den schuldlosen Bäumen
langsam bildet die alte Verhängnis
ihr stummes Gesicht aus.
Falten ziehen dorthin …
Was ein Vogel hier aufkreischt,
springt dort als Weh-Zug
ab an dem harten Wahrsagermund.
O und die bald Liebenden
lächeln sich an, noch abschiedslos,
unter und auf über ihnen geht
sternbildhaft ihr Schicksal,
nächtig begeistert.
Noch zu erleben nicht reicht es sich ihnen,
nach wohnt es
schwebend im himmlischen Gang,
eine leichte Figur.
Die »bald Liebenden«! Das ist der Zustand, den Rilke am zweitmeisten genießt. Am meisten schätzt er den Zustand der »einmal geliebt Habenden«. Weil er sich dann nicht mehr anstrengen muss und nur noch Briefe schreiben darf. Den Zustand dazwischen, den man gemeinhin Gegenwart nennt, Liebe, Ungewissheit, den schätzt er nicht, der überfordert ihn. Aber hier in Heiligendamm, unter den schuldlosen Bäumen, scheint auch er sich freier zu fühlen als sonst.
Meist liest er seiner »morgendlichen Ellen« Gedichte vor, Franz Werfel vor allem, sie gehen an den Strand, Rilke lässt den feinen Ostseesand
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