Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1913

1913

Titel: 1913 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Illies
Vom Netzwerk:
durch seine langen, schlanken Finger gleiten. Und dann gehen sie wohl tatsächlich auf sein Zimmer. Ellen schickt dem Dichter am Tag darauf Rosen aufs Zimmer. Und er dankt, mit Tinte auf taubenblauem Papier: »Die Rosen sind schön, schön, reich und rühmen einem, wie sie so dastehen, das eigene Herz, unermesslich. Rainer.«
    ◈
    Um die Truppenstärke zu erhöhen, beginnt in ganz Österreich-Ungarn die Suche nach Wehrdienstflüchtlingen. So stellt die Polizei am 22 . August eine Vermisstenanzeige: »Hietler (!), Adolf, zuletzt wohnhaft Männerheim, Meldemannstraße, Wien, gegenwärtiger Aufenthalt noch unbekannt, Nachforschungen werden fortgesetzt.«
    ◈
    Es ist ein schöner Augusttag des Jahres 1913 . Beziehungsweise: »Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Der Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der Venus, des Saturnringes und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering. Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913 .« Mit diesen Worten lässt Robert Musil seinen »Mann ohne Eigenschaften« beginnen. Neben Prousts »Recherche« und James Joyces »Ulysses« der dritte Klassiker der Moderne, in dem die Sprengkraft des Jahres 1913 aufgesogen ist.
    Aber wie war das Wetter denn wirklich in diesen Augusttagen des Jahres 1913 in Wien? In der »Neuen Freien Presse« erscheint am 15 . August ein ausführlicher Artikel mit der schönen Überschrift »Ausdauernd schlechtes Wetter«. Darin weiß Dr. O. Freiherr von Myrbach, seines Zeichens Assistent der Zentralanstalt für Meteorologie, wenig Tröstliches zu berichten: »Wie zu befürchten war, hat das heurige Sommerwetter im Wesentlichen den Charakter treulich beibehalten, den es von Anfang an trug. Seine Härten haben freilich etwas nachgelassen. Das will aber noch nicht viel sagen, denn der Beginn des Sommers war so außergewöhnlich schlecht, dass auch die spätere Zeit trotz der Besserung noch als schlecht bezeichnet werden muss.« Das heißt: Es gab keinen schönen Augusttag des Jahres 1913 . Nein, in Wien herrschte eine Durchschnittstemperatur von 16 Grad. Es war der kälteste August des gesamten 20 . Jahrhunderts. Gut, dass das die Menschen 1913 noch nicht wussten.
    ◈
    Franz Marc ist mit seiner Schwester auf die Güter des Schwagers in Gendrin in Ostpreußen gereist. Nach Dutzenden von Pferdebildern und Pferdezeichnungen steigt Marc nun selbst in den Sattel. Es gibt ein schönes Foto aus diesem August, das zeigt Marc beim Ausritt mit seinem Schwager Wilhelm. Wie das Pferd Haltung annimmt, ein Schimmel, weil er, der Pferdeflüsterer, auf ihm sitzt. Und wie er sich kaum traut, es zu berühren mit seinen Schenkeln vor lauter Hochachtung vor der Eleganz des Tieres. Am Abreisetag schenkt Wilhelm Franz Marc ein zahmes Reh. Das Reh wird mit dem Zug bis nach Sindelsdorf verschickt, übersteht die Reise und lebt fortan im Garten, getauft auf den Namen Hanni (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Sindelsdorfer Katze). Damit es nicht so einsam über die Wiese vor dem Marc’schen Atelierhaus streifen muss, bekommt Hanni bald eine Gefährtin, ein Reh namens Ruth. Immer wieder zeichnet Marc, hingerissen von ihrer braunen, scheuen Schönheit, die beiden Tiere als Symbole des Paradieses.
    ◈
    Am 16 . August wird in den Ford-Automobilwerken in Detroit erstmals ein Fließband eingesetzt. Im Geschäftsjahr 1913 produziert Ford 264 972 Autos.
    ◈
    Als Alma Mahler in Franzensbad saß und den Hochzeitstermin verstreichen ließ, da malte Kokoschka erst weiter an der »Windsbraut« und nahm dann in Verzweiflung die schwarze Farbe, um sein ganzes Atelier in einen Sarg zu verwandeln. Dann aber kommt Alma zurück, und sie verfallen einander erneut. Den 22 . August, ihren Geburtstag, feiern sie im Hotel »Tre Croci« in den Dolomiten, unweit von Cortina d’Ampezzo. Am nächsten

Weitere Kostenlose Bücher