1913
Morgen gehen sie in aller Frühe in den dichten Wald und finden in einer Lichtung junge Pferde im Spiel. Kokoschka schickt Alma trotz seiner panischen Angst vor Einsamkeit weg, packt seine Stifte aus und zeichnet die Pferde wie im Rausch. Die jungen Pferde kommen zu ihm, fressen ihm aus der Hand und reiben ihre schönen Köpfe an seinen Armen.
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Und was macht Golo Mann? Seine Mutter Katia schreibt in ihr Notizbuch über »Eine Jugend in Deutschland«: »Sommer 1913 : Golo quatscht jetzt mehr als die Aissi. Oft redet er tagelang kaum ein vernünftiges Wort, sondern spricht lauter gesteigerten Unsinn, von seinen verschiedenen Freunden, von Hofmannsthal und von Wedekind, vom Balkankrieg, aufgeschnapptes und ausgedachtes vereinend, so dass man es ihm ernsthaft verweisen muss … Ein Lieblingsspiel der Kinder ist, infolge der zahlreichen Militärkonzerte diesen Sommer, dirigieren. Golo macht es unbeschreiblich komisch, mit hässlich verzückten Mienen, weichlich von unten heraufgeholten Pianos, da er noch nie einen richtigen Kapellmeister gesehen hat, ist es mir unbegreiflich.« Golo, Thomas Manns Sohn, ist da vier. Woher er das alles nur hat?
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Wie der Vater so der Sohn: In Deutschland wird 1913 das ius sanguinis, die Abstammung, zur Grundlage für das neue Staatsbürgerschaftsrecht.
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Ernst Jünger langweilt sich in den Sommerferien in Rehburg beim Steinhuder Meer in der heimischen Villa in der Brunnenstraße, hoch rauschen die alten Eichen daneben, weit geht der Blick. Doch Jünger fühlt sich eingesperrt in dem Haus mit all den kleinen Türmchen und Erkern. Dunkle Holzvertäfelungen der Gründerzeit bestimmen das ganze Anwesen, die Fenster lassen kaum Licht durch die Buntglasscheiben. Auf den Türzargen thronen prächtige Schnitzereien. Im Jagdzimmer ist es immer dämmrig, die Fenster sind vollständig mit einem röhrenden Hirsch und einem lauernden Fuchs bemalt, hier sitzt der Vater mit seinen Freunden und raucht dicke Zigarren und hofft, die Welt aussperren zu können. Ernst Jünger hat das Gefühl, in diesem Zimmer zu ersticken, er liegt auf seinem Bett oben unterm Dach und liest wieder in Expeditionsgeschichten aus Afrika. Es regnet. Doch kaum kommt die Sonne einmal zum Vorschein, dann heizt sie mit ihrer ganzen sommerlichen Kraft in Minutenschnelle die Luft draußen auf. Jünger öffnet das Fenster, seine Eltern machen einen Ausflug. Von den harten Blättern der riesigen Rhododendronbüsche im Garten rollt das Wasser in schweren Tropfen noch minutenlang zu Boden. Er kann es hören. Popp, Popp, Popp. Ansonsten ist es totenstill an diesem Mittag im August. Da geht der 18 -jährige Ernst die weitgeschwungene dunkelbraune Treppe hinunter bis in die Garderobe und sucht ganz hinten nach seinem dicksten Wintermantel, dem, der mit feinem Fell ausgeschlagen ist. Er nimmt noch die Fellmütze aus dem Hutregal und dann schleicht er sich aus dem Haus. Draußen herrschen schwüle 31 Grad. Jünger geht zwischen den Rhododendronbüschen hindurch über den schmalen Weg, der zu den Gewächshäusern führt. Hier züchtet sein Vater tropische Gewächse und sein Gemüse. Jünger öffnet die Tür zum Gurkenhaus, ihm schlägt dumpfe, gestaute Hitze entgegen. Schnell schließt er die Tür, zieht Fellmütze und Winterjacke an und setzt sich auf den Holzschemel neben die Blumentöpfe. Wild schlängeln sich die Triebe der Gurken wie züngelnde grüne Zungen in die Luft. Es ist vierzehn Uhr. Das Thermometer im Innern des Gewächshauses zeigt 42 Grad. Jünger lächelt. Auch in Afrika,so denkt er, kann es viel heißer nicht sein.
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Am 3 . August erstickt in der Berliner Jungfernheide ein Artist in einem Sandhaufen. Seine Kunst bestand darin, bis zu fünf Minuten lebendig begraben sein zu können.
Heute jedoch hatte ihn der Direktor der Künstlergruppe vergessen, weil er in ein Gespräch vertieft war und deshalb leider erst nach zehn Minuten wieder mit dem Ausgraben begann.
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Sigmund Freud reist am 11 . August mit Frau, Schwägerin und Tochter Anna von Marienbad weiter nach San Martino di Castrozza. In diesem kleinen Bergdorf in den Dolomiten befindet sich eine Außenstelle des legendären Sanatoriums Dr. von Hartungens aus Riva. Hier oben will Freud noch einmal vier Wochen Kraft schöpfen, bevor er Anfang September nach München muss zum vermaledeiten Kongress der Psychoanalytischen Vereinigung. Freud bestellte seinen Freund Sándor Ferenczi in sein Hotel, der gerne kommt, gemeinsam arbeiten sie an einer Strategie für
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