1913
von Picasso, wiederum als Kommission von Kahnweiler. Die deutsche Kritik ätzte weiter: Im »Cicerone« hieß es, Picasso, der seine kubistischen Werke ausstellte, »scheint noch immer nicht sehr stark und nicht sehr selbständig«. Der große Karl Scheffler urteilte für »Kunst und Künstler«: »Mit Picasso ist wenig zu beginnen.« Und in der Zeitschrift »Die Kunst« wurde das vernichtende Fazit gezogen, dass »Picasso damit auf einen toten Punkt gekommen ist, dürfte kaum mehr zweifelhaft sein«.
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Es fehlt im Reigen nur einer: Ernst Ludwig Kirchner. Von ihm war in beiden Ausstellungen nichts zu sehen, weil er gerade im Begriff war, etwas ganz Neues und Großes zu schaffen. Er kehrte Ende September beglückt und reich beladen aus Fehmarn zurück nach Berlin. Allein sechzig Gemälde hat er in den Monaten an der See gemalt. Er möchte die alte Zeit, die Auflösung der Brücke, die Wohnung in der Durlacher Straße hinter sich lassen. Gemeinsam mit Erna Schilling sucht er eine neue Räuberhöhle, die sie in der Körnerstraße 45 finden. Sie sind wieder in Berlin, dieser »geschmacklos konfusen und ziemlich sinnlos aufwachsenden Stadt«, wie Rilke es in diesen Tagen so schön nennt. Kirchner hat auf Fehmarn einen neuen Frauentypus gefunden, geformt an Erna und Maschka, als sie nackt aus den sanften Fluten der Ostsee stiegen. Es sind jene gotischen Körper, die sich nach oben verjüngen, jene Gesichter, in die die Züge eingehauen sind wie in ein Stück Holz. Während sich Erna darum kümmert, auch das Atelier in der Körnerstraße wieder in ein Gesamtkunstwerk aus Skulpturen, Malerei, Behängen und Stickereien zu verwandeln, mit großen Kissenflächen, auf denen sich die Modelle und die Freunde bequem lagern können, zieht es Kirchner wieder hinaus auf den Potsdamer Platz.
Seine Nerven sind durch die Monate an der See noch so geschärft, seine Wahrnehmung und seine Poren so offen, dass die Stadt, ihr Lärm, ihre Gewalt, ihre Gesichter mit Urgewalt in sein Gemüt dringen. Und erst jetzt, durch die Reinigung des Sehnervs an der herben Ostseeluft, gelingt es ihm, ganz neue Bilder zu sehen: Er beginnt mit der »Berliner Straßenszene«, jenem ersten Bild aus seiner Serie vom Potsdamer Platz. Auf kleinstem Raum verdichtet, ist hier die städtische Moderne zu sehen, die Großstadt, und ihre Hauptdarsteller, die Kokotten in ihren schrillen Farben und mit ihren toten Gesichtern, die den Männern ein Glück verheißen, an das nicht einmal der Freier mehr glauben kann. Kirchner spürt, wie die Körperlichkeit, die er in Fehmarn an den Frauen und den Kindern noch als pure Natürlichkeit hat erleben und malen können, im Stadtraum der Neuzeit, unter den Gewändern, dem Lärm, unter den anderen Blicken und den anderen Erwartungen, nicht mehr möglich ist. Die einzige Triebkraft der Stadt ist ihre Geschwindigkeit, ihr Vorwärtsstürmen, ihre Gegenwartsvergessenheit. Doch Kirchner drückt mit seinen Bildern vom Potsdamer Platz auf die Pausetaste. Alles steht plötzlich still. Und indem also Kirchner den Betrachter seiner Bilder selbst zum Freier macht, dem sich die Kokotten wie die Stadt darbieten in ihrer sinnlosen Verfügbarkeit und ihrem besinnungslosen Glauben, dass morgen alles anders und besser wird, gelingen ihm einzigartige Bilder einer Moderne, in der der Stadtkörper nur noch aus Sehnen und Nerven besteht, aber nicht mehr aus Fleisch und Blut.
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Emil Nolde hält Berlin nicht mehr aus. Und so packt er mit seiner Frau Ada vom 1 . Oktober an seine Malutensilien und Kleider in mehrere große Koffer. Am frühen Abend des 2 . Oktober treffen sie dann im Hause des Kunstsammlers Eduard Arnhold in der Prinzregentenstraße 19 im Tiergartenviertel ein.
Arnhold ist 1913 am Gipfel seines gesellschaftlichen Aufstiegs angelangt, durch den Kohlehandel zu Reichtum gekommen, sitzt er inzwischen im Aufsichtsrat der Dresdner Bank und wird 1913 als erster und einziger Jude von Wilhelm II . in das preußische Herrenhaus berufen – auch geadelt sollte er werden, doch das lehnte Arnhold ab. Sein Geld investiert er fast ausnahmslos in Künstler und in Kunst, er ist mit James Simon der große bürgerliche Kunstmäzen, der dem preußischen Staat etwa 1913 die Villa Massimo in Rom als Kulturinstitut stiftet. Sein eigenes Haus in der Tiergartenstraße ist die souveräne Geschmacks- und Machtdemonstration eines »Kaiserjuden«, wie der spätere israelische Staatspräsident Chaim Weizmann eine Gruppe prominenter Berliner Juden, darunter
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