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1913

1913

Titel: 1913 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Illies
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Grete schwanger ist. Ob von ihrem Ehemann (den es in Berlin gab), von ihm selbst oder von seinem Freund Buschbeck, dem er ein Verhältnis mit ihr unterstellt, ist völlig unklar. Wir wissen nur, dass in einem Gedicht Trakls aus dem November das »Ungeborne« auftaucht und er drei Monate später schreiben wird, dass seine Schwester eine Fehlgeburt hatte. Aber wer weiß. Er hatte so eine gepeinigte Seele, dass auch das Leben an sich ausreichte, um ihn entzweizureißen.
    Aus Dankbarkeit seinem Gönner und Retter Ludwig von Ficker gegenüber lässt er sich trotz seines desolaten Gemütszustandes zu einem öffentlichen Auftritt überreden. Er trägt beim vierten literarischen Abend von Fickers Zeitschrift »Brenner« im Innsbrucker Musikvereinssaal vor. Und der Dichter muss gesprochen haben, als laufe er noch immer murmelnd über den Strand des Lidos von Venedig: »Der Dichter las leider zu schwach, wie von Verborgenheiten heraus, aus Vergangenheiten oder Zukünften, und erst später konnte man in den monoton gebethaften Zwischensprachen dieses schon äußerlich ganz eigenartigen Menschen Worte und Sätze, dann Bilder und Rhythmen erkennen, die seine futuristische Dichtung bilden.« So der Bericht Josef Anton Steurers im »Allgemeinen Tiroler Anzeiger«.
    Zwischen diesen beiden verkorksten Auftritten am Lido und vor dem Musikverein entsteht eines der zentralen Kapitel der deutschsprachigen Lyrik des zwanzigsten Jahrhunderts. Insgesamt 49 Gedichte sind es, darunter die Hauptwerke »Sebastian im Traum«, das »Kaspar Hauser Lied« (das eine dem Venedig-Reisenden Adolf Loos gewidmet, das andere dessen Frau Bessie) und »Verwandlung des Bösen«. Eigentlich entstehen 499 oder 4999 Gedichte, denn Trakls Gedichte sind nie fertig, es gibt unzählige Versionen, Überschriften, Neuschriften, Korrekturen und Varianten. Immer wieder greift er zum Stift, verändert die Manuskripte, immer wieder schreibt er an die Herausgeber der Zeitschriften, die seine Gedichte veröffentlichen, dass dieses Wort gegen jenes getauscht werden müsse und jenes gegen dieses. Da kann ein »blau« zu »schwarz« werden und ein »leise« zu »weise«. Man sieht, wie er Motive mit sich herumschleppt, wie er versucht, sie Strophe für Strophe unterzubringen, und, wenn alles ohne Erfolg bleibt, wie er sie wiederum ausstreicht und dann mitnimmt ins nächste Gedicht, ins nächste Jahr. »In hohem Sinne unverbesserlich«, so nannte Albert Ehrenstein Georg Trakl. Doch das ist falsch. Selbst er war noch zu verbessern. Aber eben nur durch sich selbst. Seine Gedichte sind Montagen aus Gehörtem, Gelesenem (Rimbaud vor allem und Hölderlin), aus Gespürtem. Doch es kann ihm auch widerfahren, etwa im Gedicht »Verklärung« aus dem November 1913 , dass das, was als »blauer Quell« beginnt, der »nächtlich bricht aus abgestorbenem Gestein«, am Ende doch die »blaue Blume« wird, »die leise tönt in vergilbtem Gestein«. Die Romantik ist immer Ausgangspunkt, sie ist aber mitunter auch das Sehnsuchtsziel des leisen Töners Trakl. Neunmal blüht die blaue Blume in Trakls Gedichten allein im Herbst 1913 auf. In seiner Grabinschrift für Novalis aber verblüht sie bereits auf einer frühen Textstufe. Doch kaum ist das »blau« verwelkt und durchgestrichen, folgen viele neue Wortversuche. Die Blume kann dann alles sein: Erst »nächtlicher«, dann »strahlender«, schließlich »rosiger«. Um prophetisch zu wirken, fehlt es Trakls Gedichten an Prägnanz. Vielmehr schillert hier noch einmal der deutsche Wortschatz in seiner ganzen Pracht, in seiner ganzen Kraft, im Salzburger Spätbarock, bevor Trakl dann die Tür öffnet zum Maschinenraum seiner Inspiration und den Pesthauch des Vergehens darüber wehen lässt und den Eishauch seiner Seele. Überall sterben die Blumen, dunkeln die Wälder, flüchten die Hirsche, verstummen die Stimmen.
    Ein Toter besucht dich.
    Aus dem Herzen rinnt das selbstvergossene Blut
    Und in schwarzer Braue nistet unsäglicher Augenblick;
    Dunkle Begegnung
    Du – purpurner Mond, da jener im grünen Schatten
    Des Ölbaumes erscheint.
    Dem folgt unvergängliche Nacht.
    Zu existentiell erlebt erscheinen diese unvergänglichen Vanitas-Erfahrungen, als dass man sie des Wortrausches zeihen könnte, des Kitsches gar. Trakl konnte sich nur lyrisch äußern, seine Korrekturen und Neudichtungen sind seine Autobiographie. Er hat das Dunkle gesichtet, das Flüchtige eingefangen, das Unfassbare zur Rede gestellt. Er schaute in sich hinein und wurde so zum

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