1913
dafür zu heiraten, übergeht sie geflissentlich. Aber er darf zur Belohnung hinauskommen auf den Semmering, denn ihr neues Haus ist fertig. Und da darf er ein neues Bild malen.
In Breitenstein hat sich Alma ab dem Sommer ein kurioses Haus bauen lassen, auf dem Grundstück, das Mahler drei Jahre zuvor gekauft hatte. Das Haus sieht aus wie ein überdimensionaler Kamin, dunkel, Lärchenschindeln auf den Dächern werden gerade noch gedeckt, die umlaufenden Veranden machen alle Räume dunkel und trübsinnig. Ein Schwermutstempel. Im Wohnzimmer hängt Kokoschkas Porträt Almas als Giftmischerin Lucrezia Borgia. Und daneben in einer Glasvitrine Mahlers unvollendete 10 . Symphonie, aufgeschlagen auf jener Seite, wo der Sterbenskranke seine Notschreie hinschrieb: »Almschi, geliebtes Almschi«.
Kokoschka durfte nur zur Belohnung für seine »Windsbraut« das Wohnzimmer im Semmering ausmalen, ein vier Meter breites Fresko über dem Kamin. Das Thema ist überraschenderweise: Alma Mahler und Oskar Kokoschka. Oder wie Alma es ausdrückt: »mich zeigend, wie ich in gespensterhafter Helligkeit zum Himmel weise, während er in der Hölle stehend von Tod und Schlangen umwuchert schien. Das Ganze ist auf der Idee der Flammenfortsetzung am Kamin gedacht. Mein kleines Gucki stand daneben und sagte: ›Ja, kannst Du denn gar nichts andres malen als die Mami?‹«. Gute Frage. Antwort: Nein.
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Rilke sitzt in Paris und denkt verstört an den Sommer und Herbst in Deutschland. Wie er unruhig hin und her reiste zwischen all seinen Frauen und Übermüttern, zwischen Clara, der Noch-Ehefrau, seinen Ex-Geliebten Sidonie und Lou, seiner Sommerliebe Ellen Delp, seiner Mutter, seinen ihm in Bewunderung erlegenen Damen Cassirer, von Nostitz und von Thurn und Taxis. Alles offen halten, keinen eindeutigen Weg gehen, wohin das wohl führen mag, so denkt sich Rainer Maria Rilke am 1 . November. Als Lebenshaltung ist das eine Katastrophe. Als Poesie eine Offenbarung:
Wege, offne
Dass nicht dieses länger vor mir sei,
dem versagend, ich mich rückwärts zügel:
Wege, offne, Himmel, reine Hügel,
keinem lieben Angesicht vorbei.
Ach die Pein der Liebesmöglichkeiten
hab ich Tag und Nächte hingespürt:
zu einander flüchten, sich entgleiten,
keines hat zur Freudigkeit geführt.
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In Augsburg wehklagt Bertolt Brecht: Es ist November und Erkältungszeit. Und auch ansonsten leidet der fünfzehnjährige Schüler an allerlei: Sein Tagebuch vermeldet Kopfweh, Schnupfen, Katarrh, Rückenstechen, Rückenschmerzen, Nasenbluten. Es gibt tägliche kurze Bulletins über sein eigenes »Befinden«, genüsslich beobachtet er seine Schmerzen und steigert sich hinein in seinen sekundären Krankheitsgewinn: »Vormittags kam Doktor Müller. Trockene Broncheritis. Interessante Krankheit. Schnupfen kann jeder haben.«
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Die Redewendung »An apple a day keeps the doctor away« taucht erstmals 1913 in England auf. Sie stammt aus dem Buch »Rustic Speech and Folklore« von Elizabeth M. Wright.
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Emil Nolde kommt ganz langsam der Südsee näher. Am 5 . November erfolgt die Überfahrt über das Gelbe Meer nach China. An Bord des Dampfers »Prinz Eitel Friedrich« geht es vorbei an Taiwan in fünf Tagen nach Hongkong. Von Hongkong aus reist die Expeditionsgruppe dann weiter mit dem Dampfer »Prinz Waldemar« durch das Südchinesische Meer nach Deutsch-Neuguinea. Doch als er in der fernen deutschen Kolonie an Land geht, ist er verstört. Er findet kein unberührtes Paradies vor, sondern einen Absatzmarkt. Im November 1913 schreibt er in die Heimat: »Lieber Freund, es ist betrübend zu beobachten, wie die ganzen Länder hier von den allerschlechtesten europäischen Galanteriewaren überschwemmt sind, von der Petroleumlampe bis zum allerordinärsten Baumwollstoff, gefärbt in unechter Anilinfarbe.« Um das zu sehen, so klagt er, hätte er nicht diese Reise machen müssen. Er lässt seine Malsachen in den Koffern und flucht.
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Am 2 . November wird Burt Lancaster geboren.
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Als Georg Trakl aus Venedig nach Österreich zurückkehrt, wird die untergehende Stadt nachträglich zur Inspirationsmaschine. In den letzten Monaten des Jahres 1913 überfällt ihn die Dichtung mit ungeahnter Wucht, zugleich zerbirst ihm fast der Schädel. Ein sprachlicher Rausch erzählt von einem inneren Inferno.
»Alles bricht entzwei«, schreibt er im November. Es wird sich nie ganz aufklären, was da geschehen ist, aber es ist zu vermuten, dass seine geliebte Schwester
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