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1913

1913

Titel: 1913 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Illies
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Zeugen des Unsichtbaren, mit einer sich erst in der Introspektion vollends befreienden Phantasie.
    Trakl feilt an seinen Worten, ringt mit seiner Sprache, so lange, bis er weiß, dass er sie in die Welt entlassen kann. In eine Welt, in der er selbst nicht überleben kann. Seine Gedichte – auch wenn sie von den letzten Tagen der Menschheit handeln – verkünden kein Unheil. In ihnen hat die Geschichte im Dürrenmatt’schen Sinne »die schlimmstmögliche Wendung« längst genommen, eben weil sie bereits einmal gedacht, einmal gedichtet worden ist.
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    Am 3 . November wird Marika Rökk geboren.
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    Robert Musil ist müde und geht vor seiner Frau ins Bett. Aber er kann nicht einschlafen, irgendwann hört er, wie sie ins Bad geht, um sich fertigzumachen. Dann nimmt er den Notizblock, der immer auf seinem Nachttisch liegt, und seinen Bleistift und schreibt einfach auf, was er erlebt: »Ich höre Dich das Nachthemd anziehen. Aber damit ist noch lange nicht alles zuende. Wieder gibt es hunderte kleine Handlungen. Ich weiß, dass du dich beeilst; offenbar ist das alles notwendig. Ich verstehe: wir sehen dem stummen Gebaren der Tiere zu, erstaunt, wie sich bei ihnen, die doch keine Seele haben sollen, die Handlungen aneinanderreihn, von Morgen bis zum Abend. Es ist ganz das Gleiche. Du hast kein Bewusstsein, von den ungezählten Griffen, die Du vollführst, von allem, was dir notwendig erscheint und ganz belanglos bleibt. Aber sie ragen breit herein in dein Leben. Ich, der ich warte, fühle es zufällig.« Liebe zeigt sich auch im fühlenden, staunenden, begeisterten, zärtlichen Hören und Beobachten.
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    Am 1 . November wird der bayerische König Otto offiziell für verrückt erklärt. Die Ärzte diagnostizieren das »Endstadium einer langdauernden psychischen Erkrankung«. Damit wird die Thronbesteigung durch den Prinzregenten Ludwig als Ludwig III . juristisch möglich.
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    Woyzeck ist verrückt und halluziniert: »Über der Stadt ist alles Glut! Ein Feuer fährt um den Himmel und ein Getös herunter wie Posaunen.« Am 8 . November wird im Münchner Residenztheater das 1836 entstandene, Fragment gebliebene Drama »Woyzeck« des 1813 geborenen Georg Büchner uraufgeführt, nachdem Hugo von Hofmannsthal jahrelang darauf gedrängt hatte. Es passt wunderbar in dieses Jahr und hat sich genau den richtigen Moment erwählt, um ins Bewusstsein zu dringen. Was für ein Stück, was für eine Sprache, was für ein Tempo. Fast achtzig Jahre alt und doch ganz von jetzt. Es ist die Parallelgeschichte zu Heinrich Manns »Untertan« – nur viel gewalttätiger und archaischer. Woyzeck lässt sich von einem Arzt für Experimente missbrauchen, dann vom Hauptmann, der ihn demütigt. Als ihn seine geliebte Marie mit dem feschen »Tambourmajor« betrogen hat, kann er seine Aggressionen nicht mehr zügeln und ersticht sie. Das Opfer wird zum Täter. »Kernpunkt wird« – wie Alfred Kerr sagt – »die quälende Menschheit – nicht ihr gequälter Mensch.« Es ist ein Proletarierdrama, ein Stück des Aufstands und des Aufbegehrens. Rilke ist sprachlos vor Begeisterung: »Es ist ein Schauspiel ohnegleichen, wie dieser missbrauchte Mensch in seiner Stalljacke im Weltall steht, malgré lui, im unendlichen Bezug der Sterne. Das ist Theater, so könnte Theater sein.« Es ist aber vor allem die Feier einer einzigartigen Sprache, die zwischen Halluzination und Märchen, Gosse und Poesie daherjagt und auf einen niedergeht wie ein Bussard. Am Ende des Stücks wird ein Märchen erzählt von einem einsamen Kind: »Und weil auf der Erd niemand mehr war, wollt’s in Himmel gehen, und der Mond guckt es so freundlich an und wie’s endlich zum Mond kam, war’s ein Stück faul Holz und da ist es zur Sonn gegangen und wie’s zur Sonn kam, war’s ein verwelkt Sonnenblum. Und wie’s zu den Sterne kam, waren’s kleine goldne Mücken, die waren angesteckt wie der Neuntöter sie auf die Schlehen steckt. Und wie’s wieder auf die Erde wollt, war die Erd ein umgestürzter Hafen und war ganz allein.«
    Das war ein Märchen ganz nach dem Geschmack des Jahres 1913 . Untröstlich, jenseits aller Utopie, aber voller Poesie.
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    Vielleicht ist er an jenem 8 . November unter den Gästen der Uraufführung von »Woyzeck« gewesen, es wären nur ein paar Meter gewesen von seiner Wohnung in der Ainmillerstraße 19 : Eduard von Keyserling, der größte und der vergessenste Anti-Utopiker seiner Zeit. Er war schon immer von großer Hässlichkeit, eine

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