1944 - Haß gegen Alashan
mit Tess augenblicklich die Klinik. Nachfolgen gab es keine; anscheinend war dieser Vorfall zu den Akten gekommen und die Behörde nicht informiert worden. Ein wenig Glück gehörte offenbar dazu.
Obwohl sie so jung war, hatte Tess gewußt, daß sie von jetzt an noch vorsichtiger sein mußte. Sie stellte sich so sehr auf ihre Eltern ein, daß deren Mißtrauen allmählich schwand und sie nicht mehr so intensiv beobachtet wurde.
Tess hatte nie herausgefunden, was genau in dem Luftbus damals geschehen war. Aber sie hatte erkannt, daß ihre Fähigkeiten mit zunehmendem Alter stärker wurden und nicht verschwanden, wie sie es gehofft hatte.
Sie lernte es, diese Fähigkeiten zu verheimlichen und der Umwelt eine „ganz normale" Tess zu präsentieren. Bald hatte sie sich so sehr an das Schauspielern gewöhnt, daß es ihr ganz natürlich erschien.
*
Ziellos irrte das Mädchen durch Alashan, überschritt die „Grenze" und lief ebenso kreuz und quer durch Zortengaam.
Längst versteckten sich die schmalen, ausgemergelt wirkenden Thorrimer mit ihren typisch weiten Hosen und den Ponchos nicht mehr vor den Menschen. Niemand beachtete Tess, das Leben wimmelte um sie herum. Marktschreier priesen ihre Waren auf den zahllosen, winzigen Märkten feil, doch Tess hatte keinen Blick für sie - an diesem Tag nicht. Die meisten Marktschreier trugen keine Kleidung, sondern hatten die samtbraune Haut ihrer dünnen Leiber mit auffallenden, nicht selten weithin leuchtenden Farbmustern verziert, die zum Teil individuell waren, zum anderen Teil deutliche Hinweise auf die Zugehörigkeit zur Zunft gaben.
In dem Stimmengewirr gingen die einzelnen Anpreisungen hoffnungslos unter, aber durch diesen optischen Reiz halfen die Händler ihren potentiellen Kunden, sich zurechtzufinden. Dann kam es nur noch auf die Geschicklichkeit an, sich besser als die Mitanbieter zu präsentieren.
Tess liebte es, in diesem orientalischen Ambiente herumzuschweifen, Kleinigkeiten zu erstehen, mit den Händlern zu feilschen, irgend etwas Exotisches in einer kleinen Taverne zu trinken.
Die Thorrimer waren strenge Vegetarier, und ihre Nahrungsmittel waren für Menschen ausgezeichnet verträglich. Leider waren die Mahlzeiten meistens wenig gewürzt und schmeckten ein wenig fade - dafür verstanden sie sich umso besser auf die Zubereitung von Getränken. Scharf, bitter, süß, mit allen Variationen dazwischen, für jeden Geschmack und vor allem in interessanten Farben. Diese Experimente sagten Tess sehr zu; und sie war sehr viel häufiger in einer thorrimischen Taverne zu finden als in einer terranischen Bar.
Sie hatte sich noch nie verirrt; ihr Orientierungssinn war ausgezeichnet, und sie besaß ein sicheres Gespür für den richtigen Weg.
Doch an diesem Tag war das anders. Heute achtete Tess auf nichts und verlor sich immer tiefer in dem Labyrinth an Gäßchen. Sie erschrak, als sie plötzlich angesprochen wurde, und merkte, daß sie stehengeblieben war und ein etwas verwinkeltes Haus angestarrt hatte.
In Alashan hatte es zahlreiche Umbauten gegeben, um aus beiden Städten optisch eine Einheit zu machen, aber natürlich konnte man nicht die riesigen Wohnanlagen mit den exakt geführten Straßenfluchten komplett verändern. Dann hätten die Terraner ihre Lebensweise ebenso vollständig umkrempeln müssen - was selbstverständlich nicht von heute auf morgen möglich war. Abgesehen von den ungeheuren und überflüssigen Kosten, die auf sie zugekommen wären.
Es konnte hier und da etwas kaschiert werden, doch Alashan konnte als Fremdkörper nicht komplett verschwinden. Manche nannten den einen Bereich inzwischen scherzhaft „AltZortengaam" und Alashan „das moderne Zentrum".
Jeder konnte dort leben und arbeiten, wo es ihm gefiel und wie er es gewohnt war. Damit waren die meisten Konflikte von vornherein ausgeschlossen. Vor allem, da die Terraner ein Stück ihrer Heimat mitgebracht hatten, würden sie sich nach und nach damit abfinden können, möglicherweise für immer hier zu siedeln.
„Ist dir nicht wohl?" Es war ein junger, männlicher Thorrimer.
Die Geschlechter unterschieden sich äußerlich nur durch ihre Rumpfform. Der männliche Rumpf wirkte leicht eingefallen, der weibliche eher aufgebläht. Er trug die übliche weite Hose, aber oben nicht den üblichen Poncho, sondern ein weites, dünnes Hemd, das von der Brust bis fast zur Taille offen war. Er war knapp einssechzig, das feine weiße Haar am Hinterkopf gerade zweieinhalb Zentimeter
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