195 - Verloren im Outback
der Spur.
Vielleicht hatte Herr Ilmatz schon seine Doggars aus dem Zwinger geholt und an den Sachen schnüffeln lassen, die an ihrem Schlafplatz in der Scheuer lagen.
Der Mann musste außer sich sein: Einer seiner Söhne war spurlos verschwunden, der andere lag stieren Blickes auf seinem Gutshof aufgebahrt.
»Wo ist hier…?« Aruula setzte eine Miene auf, die Hella verdeutlichte, wonach sie suchte, und die Walküre deutete mit der Hand in einen Gang, der neben dem Tresen in einen anderen Bereich des Gasthauses führte.
Aruula huschte davon, ignorierte die Räumlichkeit, von der Hella glaubte, dass sie sie aufsuchen wolle, und stieg durch ein Fenster ins Freie.
Draußen hatten Wolken den Mond verdeckt. Ein kalter Wind fauchte durch das Tal. Ganz in ihrer Nähe kreischte ein Nachtvogel und schwang sich in die Lüfte.
Aruula erschrak fast zu Tode. Sie fluchte leise und fragte sich, ob es wirklich klug war, sich in der Nacht fort zu schleichen: Die Gegend war finsterer, als ihr genehm war. Und dort drüben, am Rande der Dunkelwolke, schwebten gespenstisch grüne Irrlichter über dem Fluss.
»Erwischt«, keuchte eine Stimme an ihrem Ohr.
Zwei starke Hände packten sie und warfen sie zu Boden.
Alles ging so schnell, dass Aruula keine Zeit zur Gegenwehr hatte. Erst als der Mann auf ihr lag und sein heißer Atem ihren Hals berührte, erkannte sie ihn: Kewin!
»Du bist gar nicht tot!«
Kewin lachte hämisch. »Ha! Ha! Da hab ich dich aber reingelegt, du blöde Metze, was?«
Falls er sich nicht in einen Kraak verwandelt hatte, mussten ihm in den vergangenen Stunden sechs Arme gewachsen sein: Aruula fühlte sich überall gleichzeitig betatscht. Ihre Wut über ihre Naivität war groß, aber weitaus größer war ihr Zorn auf den Sohn des Gutsherrn, der offenbar glaubte, im Machtbereich seines Vaterhauses hätten alle Frauen für ihn zur Verfügung zu stehen.
»Lass mich los«, fauchte Aruula und schlug um sich.
»Ich krieg dich«, keuchte Kewin Ilmatz, das Hirn von Lüsternheit dermaßen verklebt, dass er seine Kinderstube völlig vergaß: Er riss an Aruulas Oberteil, bis es über ihrem Busen Ratsch! machte und sie begriff, wie ernst ihre Lage war.
»Ratze!«, schrie sie und drosch ihm auf die Nase.
Kewin schrie auf. Blut schoss in einer Fontäne aus seinem Zinken hervor. Aruula schloss instinktiv die Augen und drehte den Kopf zur Seite, um nicht getroffen zu werden.
Kewins Gewicht wurde erstaunlicherweise leichter, und als sie die Augen öffnete, sah sie das vor Zorn verzogene Gesicht Hellas. Sie hatte den jungen Mann am Kragen gepackt, schüttelte ihn hin und her und schleuderte ihn dann wie einen Welpen zur Seite. Aruula hörte ein Klatschen wie kurz zuvor am Brunnen, dann einen klagenden Laut.
Sie sprang auf und sah gerade noch, wie Hella dem jungen Mann, der sich schon aufrappelte, in den Rücken trat. Kewin hielt mit einer Hand seine blutende Nase fest und ergriff die Flucht. Bald hatte die Nacht ihn verschluckt.
Aruula stand zitternd da und schaute hinter ihm her. Ihr gingen allerhand Gedanken durch den Kopf, und nicht in allen war sie als strahlende Heldin vertreten. Sie schämte sich, weil sie sich im Schutz der Nacht hatte davonschleichen wollen.
Beinahe hätte sie die Frau, die sie vor einem bösen Schicksal bewahrt hatte, im Stich gelassen…
»Hella, ich…«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Rätzchen.« Hella klopfte Aruula kameradschaftlich auf die Schulter. »Du bist halt aus anderem Holz geschnitzt.«
»Ich wäre gern wie du«, sagte Aruula ehrlich.
»Du bist noch jung. Was nicht ist, kann noch werden.«
Hella schaute sie an. »Wie alt bist du?«
»Siebzehn.«
»Ich bin fünfunddreißig.« Hella hustete. »Na gut, achtunddreißig.« Sie kicherte.
***
Die Siedlung im Outback war eigentlich eine Stadt. Gewesen; damals in den Zeiten vor »Christopher-Floyd«. Sie hieß Hollow Creek, nach dem ausgetrockneten Flussbett, das sich wie ein tiefer Graben an ihrer Ostseite entlang zog. Ein Mann namens Steve Logan hatte sie auf dem riesigen Gelände seiner Farm gegründet, in einer Epoche, als australische Schafzüchter ihre Ware noch mit Ochsenkarren zu den Anlegestellen der Flussdampfer brachten.
Logan besaß an die sechzigtausend Merinos. Ein Mal pro Jahr kamen wandernde Schafscherer auf seine Farm, Aborigines zumeist, um mit der Schur und dem Verarbeiten der Wolle etwas Geld zu verdienen. Andere Arbeit gab es nicht im menschenleeren Outback, und diese hier bedeutete zwei Monate
Weitere Kostenlose Bücher