1969 - Grausame Götter
genossen, gierig aufgesaugt mit seinem ausgehungerten Geist. Er war mit Siebenmeilenstiefeln den Regenbogen entlanggeeilt, hatte alle Farbnuancen des Spektrums durchwandert. Er hatte im Purpur gebadet, das Zyan getrunken, hatte sich von den türkisfarbenen Kaskaden empor tragen lassen, hatte Magenta geschöpft, die goldene Morgenröte durchschwommen und war durch Ocker gestapft.
Er hatte sie alle genossen, die unzähligen Farben dieser unglaublichen Welt. Hier gab es kein hartes Schwarz, kein kaltes Weiß. Alles war weich und warm und fließend, ohne klingenscharfe Konturen. Ein steter fließender Strom, ein ruhiger Fluss ohne Wirbel und Schnellen. Und doch konnte man nicht träge werden und sich haltlos treiben lassen. Diese Wunderwelt wollte erforscht werden - und es gab so viel zu entdecken. Zu sehen und zu hören. Manchmal wurde es grell, zu bunt. Aber die Extreme schwächten sich wieder ab. Manchmal wurde es auch zu laut, plärrend geradezu, doch folgten bei Bedarf wieder leisere Töne. Sanfte Musik aus majestätisch fließenden Farben.
Dies waren Momente - Ewigkeiten - des unbeschreiblichen Glücks. Er war befreit von allen Zwängen der Realität, losgelöst vom körperlichen Sein, den Gesetzen von Raum und Zeit enthoben. Endlich hatte er sein Elysium gefunden - und ging völlig darin auf. Ohne Wenn und Aber keine Kompromisse. Es waren auch Augenblicke - Ewigkeiten - des Lernens und des Erfahrens. Er fand Dinge heraus, die zu verstehen er sich nie zugetraut hätte, weil sie so abstrakt und fern. allen Begriffsvermögens waren. Und doch verstand er sie. Sachen, von denen er gar nicht gewusst hatte, dass es sie gab, dass sie überhaupt möglich waren.
Und wie er lernte, so versuchte er auch zu lehren. Er versuchte es wirklich, mit der ganzen ihm zur Verfügung stehenden Kraft, aber ... Armer, armer Vince, wie jämmerlich bist du in deinen Möglichkeiten, dich mitzuteilen. Wie sehr du dich auch anstrengst, Vince, du spuckst doch nur schmutzige Farben, ergießt dich in schaurigen Tönen. Du erwirkst damit kein Verstehen, sondern löst nur eine Lawine von Plärren und Gellen aus. Und wenn es laut wird, dann wird es so laut, dass du meinst, es würde deinen Geist sprengen. Doch alles in allem ist es hier okay. Du möchtest von hier nicht mehr fort. Das ist dein Wunschort, zu dem du dich immer gesehnt hast. Aber da ist eine Kraft, gegen die du dich nicht wehren kannst und die dich unerbittlich fortzieht...
Die Farben erloschen allmählich. Vince sah mit tiefer Trauer, wie sie verblassten, wie sie weniger und dumpfer wurden. Und das schlimme für ihn war, dass mit den Farben auch sein Wissen um ihr Geheimnis schwand. Er wusste nur noch, dass er an diesem Wunder teilgehabt hatte, aber das tiefere Empfinden dafür entzog sich ihm, wurde zum Bestandteil einer anderen Welt, in die er keinen Einblick mehr hatte. Es blieb nur eine vage Erinnerung daran, eine Ahnung bloß...
Mit einem letzten brutalen Ruck wurde Vincent Garron in die Monotonie seiner Monochromwelt zurückgeholt, wurde wieder zum farbenblinden Achromaten. „Schluss damit!" sagte Soboth entschlossen. „Es war höchste Zeit, dass du aufhörst zu spinnen." Soboth war jener Teil seines Bewusstseins mit der Fähigkeit, Farben zu vertreiben. „Ich glaube, ich habe eine Möglichkeit gefunden, wie wir zurückkehren können", sagte Soboth.
4.
Lobon aro Vish lehnte entspannt in der körpergerechten Halbliege und registrierte mit wohligem Schaudern, wie die Strahlen der verschiedenen Düsen seinen Körper massierten. Seine Lebensgeister kehrten in dem Maße zurück, wie die Flüssigkeit seinen Körper besprengte und die geschundene Haut ihr das Elcoxol entzog. Die Luft war geschwängert mit Sprühregen und berauschenden Düften, Lobons ganz persönlicher Komposition.
In Meditation versunken, spielten seine Finger mit den geweihten Steinen seines Liandos. Dabei hatte er eine schöne Vision. Die prophetischen Worte eines unbekannten Bruders hallten aus dem fernen Kloster von Clannach durch Raum und Zeit zu ihm und beschworen die Götter einen nach dem anderen vor seinem geistigen Auge herauf. Sie traten in der Reihenfolge auf, in der Lobon aro Vish die ihnen geweihten Steine berührte: Andaron, Xion, Vaari, Eborad, Yindon, Kalcham ... Zehnerschaft um Zehnerschaft bauten sie sich wie ein unüberwindlicher Schutzwall gegen die Ungläubigen von den Sternen auf. Bereit, sie zu läutern oder sie zu vernichten, ganz wie es der namenlose Bruder aus Clannach
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