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1974

1974

Titel: 1974
Autoren: David Peace
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DIN-A4-Umschlag lag in einer Pfütze neben dem Waschbecken. Ich hob ihn auf, schüttelte die Wassertropfen ab, öffnete ihn und schloß die Augen, um die Schmerzen in meinem Kopf erträglicher zu machen.
    Ich öffnete die Tür zur Klokabine und griff nach der Metallkette, spülte ein langes gelbes Stück Scheiße hinunter. Ich schloß den gesprungenen Klodeckel über dem tosenden Wasser, setzte mich und öffnete den Umschlag.
    Die nächste Hölle.
    Ich zog zwei dünne DIN-A4-Seiten und drei vergrößerte Photos aus dem Umschlag.
    Eine Kopie des Obduktionsberichts von Clare Kemplay.
    Die reinste Horrorshow.
    Ich konnte, wollte mir die Photos nicht anschauen und tat es nicht. Ich las, das Entsetzen wurde immer größer.
    Die Obduktion war am 14. Dezember 1974 gegen 19.00 Uhr von Dr. Alan Coutts im Pinderfields Hospital in Wakefield vorgenommen worden, anwesend waren DCS Oldman und Superintendent Noble.
    Die Leiche war einen Meter 22 groß und wog 32,5 Kilogramm.
    Abschürfungen, möglicherweise Bisse, an der rechten oberen Wange, dazu am Kinn und an Hals und Nacken. Abschürfungen, die auf Strangulierung als Todesursache hindeuteten.
    Strangulierung.
    Dabei hatte sie sich mit den eigenen Zähnen durch die Zunge gebissen. Sie war wahrscheinlich nicht bewußtlos, als die tödliche Gewalt angewandt wurde.
    Wahrscheinlich nicht bewußtlos.
    Dem Opfer war mit einer Rasierklinge 4 LUV in die Brust geritzt worden. Auch dabei war davon auszugehen, daß die Wunde nicht post mortem zugefügt worden war.
    4 LUV.
    Auch an beiden Hand- und Fußgelenken fanden sich Schürfungen. An allen vier Stellen war aus tiefen Einschnitten Blut ausgetreten, was darauf hinwies, daß das Opfer sich eine ganze Weile gegen seinen Angreifer gewehrt hatte. Die beiden Handflächen waren durchbohrt worden, wahrscheinlich mit Nägeln oder einem ähnlichen Metallgegenstand. Eine entsprechende Wunde fand sich im linken Fuß, und offenbar war am rechten Fuß der Versuch unternommen worden, eine weitere derartige Wunde zu hinterlassen, was aber nur in Ansätzen gelungen war.
    Das Opfer hatte sich eine ganze Weile gegen seinen Angreifer gewehrt.
    Weitere Untersuchungen waren notwendig, doch ergab eine erste Analyse von Partikeln der Haut und Fingernägel des Opfers eine auffällige Menge an Kohlenstaub.
    Kohlenstaub.
    Ich schluckte.
    Vagina und Anus wiesen Risse und blaue Hecken auf, sowohl innerlich als auch äußerlich. Die inneren Verletzungen der Vagina stammten vom Stiel und von den Dornen einer Rose, die in die Vagina gesteckt worden war. Auch hier war der überwiegende Teil der Verletzungen nicht post mortem zugefügt worden.
    Stiel und Dornen einer Rose.
    Blankes Entsetzen.
    Ich hatte Mühe, Luft zu holen.
    Dann hatten sie sie wohl auf den Rücken gedreht.
    Clare Kemplays Rücken erzählte eine andere Geschichte.
    Eine vollkommen andere Hölle:
    Zwei Schwanenflügel waren ihr an den Rücken genäht worden.
    »HABEN IHM DIE FLÜGEL GLATT ABGETRENNT UND DAS ARME VIECH EINFACH DA LIEGEN LASSEN.«
    Sie waren mit einem dünnen gewachsten Faden angenäht worden. An manchen Stellen waren Haut und Muskeln völlig, zerquetscht, und der Faden hatte sich gelöst. Der rechte Flügel hatte sich ganz abgelöst, Haut und Muskeln waren nicht in der Lage gewesen, das Gewicht des Flügels oder den Druck der Nah., zu halten, so daß sich eine große Rißwunde am rechten Schultertblatt des Opfers gebildet hatte.
    »DIE HABEN IHM DIE FLÜGEL ABGEHACKT. DER SCHEISS SCHWAN HAT NOCH GELEBT.«
    Am Ende des Berichts hatte der Pathologe noch getippt:
    Todesursache: ASPHYXIE DURCH STRANGULIERUNG .
    Durch das dünne weiße Papier konnte ich die Umrisse und. Schatten einer schwarzweißen Hölle erkennen.
    Ich stopfte alles wieder in den Umschlag zurück, ohne mir die Photos anzuschauen, und würgte, während ich mit dem Schloß der Klokabine kämpfte. :
    Ich riß die Tür auf, rutschte aus und fiel gegen einen anderen beschissenen Lasterfahrer, heiße Pisse plätscherte mir ans Bein.
    »Hau bloß ab, du verdammte Schwuchtel!«
    Ich kämpfte mich zur Tür hinaus, sog die Yorkshire-Luft ein, und Tränen und dreckiges Wasser liefen mir übers Gesicht.
    Keine der Verletzungen waren ihr post mortem zugefügt worden.
    »Ich rede mit dir, du schwule Sau.«
    4 LUV .
     
    Meine Mutter hockte im Hinterzimmer in ihrem Schaukelstuhl und sah hinaus in den Garten und den leichten Nieselregen.
    Ich brachte ihr eine Tasse Tee.
    »Schau dich doch nur mal an«, sagte sie, ohne mich
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