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1974

1974

Titel: 1974 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Peace
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Wohngegend erheblich vornehmer vorgestellt als das hier.
    »Du schon.«
    Ich konnte ihm nicht folgen und schaute mich um.
    »Brunt Street ist die erste links ein Stück weit zurück.«
    »Hm?« Ich schaute in die Richtung.
    Barry Gannon lachte. »Wer zum Henker wohnt in dem Haus 11 Brunt Street, Castleford, Sherlock?«
    Ich kannte die Anschrift, kramte durch die Schmerzen in meinem Kopf, und langsam dämmerte es mir. »Die Garlands?«
    Jeanette Garland, S, Castleford, vermißt seit dem 12. Juli 1969.
    »Sie haben den ersten Preis gewonnen.«
    »Scheiße.«
    Barry sah auf die Uhr. »Wir treffen uns in ein paar Stunden auf; der anderen Straßenseite im Swan und tauschen Horrorstorys aus.«
    Stinksauer stieg ich aus.
    Barry beugte sich vor, um die Tür zuzuziehen. »Ich hab dir doch gesagt, du schuldest mir was.«
    »Na, wie schön.«
    Und damit war der lachende Barry verschwunden.
     
    Brunt Street, Castleford.
    Auf der einen Seite Reihenhäuser aus der Vorkriegszeit, auf der anderen neuere Doppelhaushälften.
    Die 11 war auf der Reihenhausseite und hatte eine leuchtendrote Haustür.
    Ich ging dreimal die Straße rauf und runter, hätte lieber meine Notizen dabei gehabt, hätte lieber erst angerufen, hätte lieber nicht nach Alkohol gestunken, doch dann klopfte ich leise und nur ein einziges Mal an die rote Tür.
    Ich stand auf der ruhigen Straße, wartete und wandte mich ab.
    Die Tür flog auf. »Hören Sie, ich weiß nicht, wo zum Teufel er steckt. Und jetzt verschwinden Sie!«
    Die Frau wollte gerade die rote Tür zuschlagen, hielt aber inne. Sie fuhr mit der Hand durch ihr schmutziggelbes Haar und zog eine rote Strickjacke um ihren mageren Körper. »Wer sind Sie?« flüsterte sie.
    »Edward Dunford.« Mein kleiner roter Affe rüttelte an den Stäben seines Käfigs.
    »Sind Sie wegen Johnny hier?«
    »Nein.«
    »Weswegen denn?«
    »Jeanette.«
    Sie legte sich drei dünne Finger an die weißen Lippen und schloß die blauen Augen.
    An der Tür zum Tod, mit einem Himmel, der sich zu einem Dezemberblau aufhellte, zog ich meinen Stift und Papier hervor und sagte: »Ich bin Reporter. Von der Post.«
    »Na, dann kommen Sie mal rein.«
    Ich schloß die rote Tür hinter mir.
    »Setzen Sie sich. Ich mache uns einen Tee.«
    Ich nahm in einem cremeweißen Ledersessel in einem kleinen, aber geschmackvoll eingerichteten Vorderzimmer Platz. Die meisten Sachen waren neu und teuer, manches war noch in Plastik verpackt. Der Farbfernseher lief ohne Ton. Es gab gerade eine Sendung für lesebehinderte Erwachsene, der Titel On the Move stand auf der Flanke eines schneller werdenden weißen Ford Transit.
    Ich schloß für einen Augenblick die Augen und versuchte, meinen Kater zu bändigen.
    Als ich die Augen aufschlug, sah ich sie.
    Auf dem Fernseher stand das Photo, das Schulporträt, vor dem ich mich so gefürchtet hatte.
    Jeanette Garland, jünger und hellhäutiger als Susan und Clare, lächelte mich mit dem glücklichsten Lächeln an, das ich je gesehen hatte.
    Jeanette Garland war mongoloid.
    Draußen in der Küche fing der Kessel an zu schreien und verstummte abrupt.
    Ich wendete den Blick vom Photo ab und betrachtete einen Schrank voller Trophäen und Pokale.
    »Hier, bitte«, sagte Mrs. Garland und stellte ein Tablett auf das Sofatischchen vor mich. »Lassen Sie ihn noch einen Augenblick ziehen.«
    »Ein ziemlicher Sportsmann, Mr. Garland«, sagte ich lächelnd und nickte in Richtung Schrank.
    Mrs. Garland zog ihre rote Strickjacke fester um sich und setzte sich auf das cremeweiße Ledersofa. »Die gehören meinem Bruder.«
    »Oh«, sagte ich und versuchte zu schätzen, wie alt sie war:
    Jeanette war 1969 acht Jahre alt gewesen, da dürfte ihre Mutter vielleicht 26,27 gewesen sein, also jetzt Anfang 30?
    Sie sah so aus, als habe sie seit Tagen nicht geschlafen.
    Unsere Blicke trafen sich. »Womit kann ich Ihnen helfen, Mr. Dunford?«
    »Ich schreibe einen Artikel über Eltern, deren Kinder vermißt werden.«
    Mrs. Garland zupfte ein paar Staubkörnchen vom Rock.
    »Erst ist das Interesse der Öffentlichkeit immer groß, doch dann stirbt es wieder ab.«
    »Stirbt?«
    »Ja. Der Artikel dreht sich darum, wie die Eltern damit klarkommen, wenn sich die ganze Aufregung gelegt hat, und …«
    »Wie ich damit klarkomme?«
    »Ja. Zum Beispiel, hatten Sie damals den Eindruck, die Polizei hätte mehr tun können, um Ihnen zu helfen?«
    »Eine Sache gab es schon.« Mrs. Garland starrte mich unverwandt an und wartete.
    »Und was war das?«

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