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1974

1974

Titel: 1974 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Peace
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eine Andeutung fallenlassen, sie könne vielleicht über eine Zutrittsmöglichkeit verfugen, und nun stand ich in der Küche der Goldthorpes, in der Höhle des Rattenfängers.
    Ich versuchte, in der Küche Licht zu machen.
    »Die haben doch sicher den Strom abgestellt, oder nicht?« flüsterte Mrs. Sheard von der Türschwelle aus.
    Ich probierte den Schalter ein zweites Mal. »Sieht so aus.«
    »Also, ohne Licht möchte ich da nicht reingehen. Ich kriege schon eine Gänsehaut, wenn ich nur hier stehe.«
    Ich linste in die Küche und fragte mich, wann Enid Sheard das letzte Mal nackte Haut gesehen hatte. Es roch muffig, wie nach einer Woche Camping.
    »Sie werden wohl zurückkommen müssen, wenn es hell ist, nicht wahr? Ich hab Ihnen doch gesagt, Sie sollten sonntags nie arbeiten, oder nicht?«
    »Ja, haben Sie«, murmelte ich unter der Küchenspüle und fragte mich, ob Enid Sheard ihren letzten Geschlechtsverkehr genossen hatte, ob sie es vermißte und dies nicht einiges erklären würde.
    »Was machen Sie da unten, Mr. Dunford?«
    »Heureka!« rief ich, tauchte mit einer Kerze wieder unter der Spüle auf und dachte, Gott sei Dank dafür und für die Drei-Tage-Woche.
    »Na, wenn Sie darauf bestehen, sich im Stockfinsteren umzuschauen, will ich mal sehen, ob ich nicht eine von Mr. Sheards alten Taschenlampen auftreiben kann. Waren ihm immer wichtig, dem Mr. Sheard, Kerzen auch. Stets auf der Hut sein, hat er immer gesagt. Und denken Sie doch nur mal an diese Streiks und was noch alles.« Auf dem Weg zurück in ihr eigenes Haus kotzte sie sich weiter aus.
    Ich schloß die Hintertür und nahm aus dem Küchenschrank’ eine Untertasse. Ich zündete die Kerze an, tropfte heißes Wachs auf den Teller und befestigte darauf die Kerze.
    Endlich allein in der Höhle des Rattenfängers.
    Das Blut in meinen Füßen war eiskalt.
    Die Kerze beleuchtete die Küchenwände rot und gelb, und plötzlich befand ich mich wieder auf einem Hügel oberhalb des; brennenden Zigeunerlagers, vor mir das Gesicht eines kleinen Mädchens mit braunen Locken, das in die Nacht weinte, während ein anderes kleines Mädchen mit Flügeln am Rücken auf einem Tisch im Leichenschauhaus lag. Ich schluckte schwer, fragte mich,. was zum Teufel ich da eigentlich machte, und schob die gläserne Küchentür auf.
    Der Bungalow war genauso geschnitten wie der von Mrs. Sheard. In dem wenigen Licht, das am anderen Ende des Flurs durch die gläserne Eingangstür fiel und sich zum Kerzenschein gesellte, sah ich einen schmalen Gang mit ein paar trostlosen schottischen Landschaftsbildern und einer Radierung, die einen Vogel darstellte. Die fünf Türen, die vom Flur abgingen, waren zu. Ich stellte die Kerze auf das Telefontischchen und suchte in meinen Taschen nach Papier.
    In der Höhle des Rattenfängers …
    Ich würde keine Schwierigkeiten haben, die Geschichte an die überregionalen Zeitungen zu verkaufen. Noch ein paar Photos, und alles war klar. Danach vielleicht noch ein Schnellschuß im Taschenbuch. Wie Kathryn schon gesagt hatte: die Story schrieb sich praktisch von selbst.
    6 Willman Close, Anschrift von Graham und Mary Goldthorpe, Bruder und Schwester, Killer und Opfer.
    Im Hausflur des Rattenfängers zog ich meinen Stift aus der Tasche und suchte mir eine Tür aus.
    Das hintere Schlafzimmer hatte Mary bewohnt. Enid Sheard zufolge hatte Graham darauf bestanden, daß seine große Schwester aus Gründen der Privatsphäre das große Schlafzimmer bekam. Die Polizei hatte zudem bestätigt, daß Graham in den zwölf Monaten vor den Ereignissen des 4. November zweimal angerufen und sich beklagt hatte, ein Spanner habe durchs Fenster seiner Schwester geschaut. Die Polizei hatte seine Behauptungen nicht beweisen können, es vielleicht auch gar nicht versucht. Ich fand die schweren dunklen Vorhänge bedrückend, und ich fragte mich, ob sie wohl neu waren, ob Graham sie für Mary gekauft hatte, um den Spanner und dessen neugierige Blicke auszusperren.
    Wem gehörten die Augen, deren Blick über den Leib seiner Schwester strich? Waren es die Augen eines Fremden oder seine eigenen, die ihn nun im Spiegel durchbohrten?
    DieVorhänge und Möbel wirkten zu wuchtig für das Zimmer, doch das war auch in Enid Sheards Haus nebenan so und im Haus meiner Mutter ebenfalls. In Marys Zimmer standen ein Einzelbett, ein Kleiderschrank und eine Spiegelkommode, alles groß und aus Holz. Ich stellte die Kerze vor den Spiegel, neben zwei Haarbürsten, eine Kleiderbürste, einen Kamm und

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