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1974

1974

Titel: 1974 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Peace
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ein Photo von ihrer Mutter.
    Kam Graham in dieses Zimmer, wenn sie schlief, sammelte blonde Haare am ihrer Bürste, Haare wie die ihrer Mutter, um sie zu hüten, sie aufzuheben?
    In der linken oberen Schublade lagen Make-up und ein paar Hautcremes. In der rechten oberen Schublade fand ich Mary Goldthorpes Unterwäsche, Seide, die Polizei hatte sie durchwühlt. Ich faßte einen weißen Schlüpfer an, erinnerte mich an die Photos, die wir von einer schlicht gekleideten, aber keineswegs unattraktiven Frau gedruckt hauen. Mary war mit vierzig gestorben, weder die Polizei noch ich selbst hatten einen Freund auftreiben können. Ziemlich teure Unterwäsche für eine Frau ohne Liebhaber. Was für eine Verschwendung.
    Graham beobachtete sie im Schlaf, ihr Haar auf dem Kissen aus gebreitet. Leise schob er die oberste rechte Schublade auf und vergrub seine Hände tief in dem seidenen Inhalt ihres intimsten Besitzes, Plötzlich setzte sich Mary im Bett auf.
    Bad und Klo waren eins; es roch nach kalter Fichte. Ich stand auf einer rosafarbenen Badematte, pinkelte schnell in Graham, Goldthorpes Kloschlüssel und dachte immer noch an seine Schwester. Die Spülung hallte durchs Haus.
    »Graham? Was tust du da?« flüsterte sie.
    Grahams Zimmer lag neben dem Bad zur Vorderseite des Hauses, es war klein und mit weiteren Stücken des wuchtigen, geerbten Mobiliars angefüllt. An der Wand über dem Kopfende des Einzelbettes hingen drei gerahmte Bilder. Ich stützte mich mit einem Knie auf Grahams Bett und hielt die Kerze vor drei weitere Vogelradierungen ähnlich der im Flur. Grahams Schlafanzug lag noch immer unter dem Kopfkissen.
    Graham erstarrte; der Pyjama klebte ihm schweißnaß am Leib.
     
    Neben dem Bett lagen mehrere Stapel Magazine und Akten. Ich stellte die Kerze auf ein Tischchen neben dem Bett und nahm ein paar Magazine in die Hand. Es handelte sich um Verkehrsmagazine, Eisenbahnen oder Busse. Ich ließ sie auf der Bettdecke liegen und ging zum Schreibtisch, auf dem ein großes Tonbandgerät stand. Auf dem Bücherregal war eine Lücke; die Polizei hatte wohl die Tonbänder mitgenommen.
    Scheiße.
    Die Bänder des Rattenfängers, für immer verloren.
    »Heute nacht ertappte sie mich in ihrem Zimmer, als ich ihr beim Schlafen zuschaute«, flüsterte Graham unter der Bettdecke, während sich die Tonbandspulen lautlos drehten. »Morgen ist die Freinacht vor Guy Fawkes’ Day, morgen werden sie kommen.«
    Ich zog ein dickes Buch, einen alten Eisenbahnfahrplan, aus dem Regal und grübelte darüber, wie nutzlos diese Schwarte war. Auf die innere Titelseite hatte Graham Goldthorpe das Bild einer Eule mit Brille geklebt und darunter geschrieben: DIESES BUCH GEHÖRT GRAHAM UND MARY GOLDTHORPE. STEHLEN SIE ES NICHT, SONST WERDEN SIE GEJAGT UND GETÖTET.
    Scheiße.
    Ich nahm ein zweites Buch aus dem Regal und fand darin dieselbe Botschaft, auch im nächsten und übernächsten und überübernächsten.
    Total durchgeknallt.
    Ich stellte die Bücher zurück, stockte aber bei einem Buch, das sich nicht richtig zuklappen ließ: Die Kanäle des Nordens.
    Ich schlug es auf und landete sofort wieder in der Hölle.
    Zwischen den Photographien verschiedener Kanäle des Nordens steckten Photographien von zehn, zwölf kleinen Mädchen.
    Schulphotos.
    Augen und lächelnde Münder strahlten mich an.
    Mein Mund war trocken, mein Herz raste. Ich knallte das Buch zu.
    Im nächsten Augenblick schlug ich es wieder auf, hielt es näher an die Kerze und blätterte durch die Photos.
    Keine Jeanette.
    Keine Susan.
    Keine Clare.
    Nur etwa zehn Schulporträts, fünfzehn mal zehn, von jungen Mädchen im Alter von zehn bis zwölf.
    Keine Namen.
    Keine Adressen.
    Keine Daten.
    Nur zehn blaue Augenpaare und zehnfaches zahnweißes Lächeln vor demselben himmelblauen Hintergrund.
    Verstand und Puls rasten mir, ich nahm wieder ein Buch aus dem Regal, noch eins, noch eins.
    Nichts.
    Fünf Minuten später hatte ich alle Bücher und Magazine durchgeblättert.
    Nichts.
    Ich stand mitten in Graham Goldthorpes Schlafzimmer, drückte die Kanäle des Nordens an mich; der Rest des Zimmers lag zu meinen Füßen.
    »Ich weiß ja nicht, was so wichtig ist, daß Sie nicht an einem anderen Tag wiederkommen können. Ach herrje! Was für eine Unordnung.« Enid Sheard funzelte mit einer Taschenlampe von einer Ecke in die andere und schüttelte den Kopf. »Mr. Goldthorpe hätte einen Anfall bekommen, wenn er sein Zimmer so vorgefunden hätte.«
    »Sie wissen nicht zufällig, was die

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