1976 - Das Jesus-Papier
jetzt klar war. Zum größten Teil.
7-14-20. Sein siebzehnter Geburtstag. Jetzt erinnerte er sich, weil es in seinem ganzen Leben keinen solchen Tag gegeben hatte. Mein Gott, dachte Victor, Savarone war unglaublich! Teil seiner Kindheit. An seinem siebzehnten Geburtstag hatte sein Vater ihm das Geschenk gegeben, das er sich so sehr gewünscht hatte, daß er davon geträumt und darum gebettelt hatte: die Chance, ohne seine jüngeren Brüder in die Berge hinaufzusteigen. Wirklich zu klettern über den üblichen und - für ihn - langweiligen Lagerplätzen in den Vorbergen.
An seinem siebzehnten Geburtstag hatte Savarone ihm echtes Kletterzeug geschenkt, so wie es erfahrene Bergsteiger benutzen. Nicht daß sein Vater mit ihm die Jungfrau hätte besteigen wollen; sie hatten nie eine außergewöhnliche Tour gemacht. Aber jene erste Tour - allein mit seinem Vater - war eine Landmarke in seiner frühen Mannheit. Jene Kletterausrüstung und jene Reise waren für ihn Symbole von etwas sehr Wichtigem: ein Beweis, daß er in den Augen seines Vaters anfing, erwachsen zu werden.
Er hatte es vergessen. Er war selbst jetzt nicht sicher, denn es hatte andere Touren gegeben, andere Jahre. War es - jene erste Tour - im Champoluc gewesen? So mußte es gewesen sein, aber wo? Das entzog sich seiner Erinnerung.
»... Ihr Leben in diesem Wasser beenden.«
Gaetamo hatte gesprochen, aber Fontine hatte ihn nicht gehört: Nur die Drohung war zu ihm durchgedrungen. Von allen Menschen - allen Priestern - durfte dieser Wahnsinnige nichts erfahren. »Ich habe nur sinnloses Gekritzel gefunden. Kindische Markierungen, so wie Sie sagten.«
»Sie fanden, was rechtmäßig Christus gehört!« Gaetamos Worte schnitten durch den Wald. Er ließ sich auf ein Knie nieder. Sein mächtiger Brustkasten und sein Kopf waren nur wenige Zentimeter von Victor entfernt, seine Augen weit und brennend. »Sie fanden das Schwert des Erzengels der Hölle! Keine Lügen mehr. Sagen Sie mir, was Sie gefunden haben!«
»Nichts.«
»Lügner! Weshalb sind Sie hier? Ein alter Mann in Wasser und Schlamm! Was war in diesem Strom? An diesem Felsen!«
Victor starrte die grotesken Augen an. »Warum ich hier bin?« wiederholte er, streckte den Nacken, bog seinen gequälten Rücken, und seine Gesichtszüge verzerrten sich. »Ich bin alt. Mit vielen Erinnerungen. Ich habe mir eingeredet, daß die Antwort hier liegen könnte. Als wir Kinder waren, haben wir einander hier Nachrichten hinterlassen. Sie haben es selbst gesehen. Kindisches Gekritzel, in den Stein gekratzt. Ich dachte, vielleicht - aber ich fand nichts. Wenn hier etwas war, dann ist es inzwischen verschwunden.«
»Sie haben den Felsen untersucht und dann aufgehört. Sie wollten gehen.«
»Schauen Sie mich an! Wie lange glauben Sie, daß ich in diesem Wasser bleiben kann?«
Gaetamo schüttelte langsam den Kopf. »Ich habe Sie beobachtet. Sie waren ein Mann, der das gefunden hatte, was er hatte finden wollen.«
Victors Fuß glitt aus. Der Ast, auf den er sich gestützt hatte, glitt in den Schlamm, sank tiefer. Die Hand des Priesters zuckte vor und packte Fontine am Haar. Er riß wild daran, zog Victor gegen das Ufer, drückte ihm Kopf und Hals zur Seite. Das plötzliche Zerren war unerträglich. Heißer Schmerz breitete sich durch Fontines Körper aus. Die geweiteten Augen des Wahnsinnigen über ihm waren nicht die eines alternden Mannes im Kleid eines Priesters, sondern vielmehr die Augen eines jungen Fanatikers vor dreißig Jahren.
Gaetamo sah das. Und begriff. »Wir dachten damals, Sie wären tot. Sie hätten unmöglich überleben können. Die Tatsache, daß Sie doch überlebten, überzeugte unseren heiligen Mann, daß Sie aus der Hölle kamen!... Sie erinnern sich. Denn ich werde jetzt das fortsetzen, was vor dreißig Jahren begann. Jedesmal, wenn einer Ihrer Knochen knackt, werden Sie die Chance haben - so wie Sie sie damals hatten -, mir zu sagen, was Sie gefunden haben. Aber lügen Sie nicht. Der Schmerz wird erst aufhören, wenn Sie mir die Wahrheit sagen.«
Gaetamo beugte sich nach vorn. Er begann Victors Kopf herumzudrehen, preßte sein Gesicht nach unten, gegen das Felsufer, riß ihm dabei das Fleisch auf, quetschte die Luft aus Fontines Kehle.
Victor versuchte, sich ihm zu entwinden. Der Priester schmetterte seine Stirn gegen eine knorrige Wurzel. Das Blut schoß aus der Platzwunde, floß in Victors Augen, blendete ihn, machte ihn wütend. Er hob die rechte Hand, griff nach Gaetamos Handgelenk. Der
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