1976 - Das Jesus-Papier
wäre es ein Gegenstand von außergewöhnlichem Wert, den er nicht loslassen wollte. Dann erkannte Andrew, daß Goldoni noch etwas in den Armen hielt, etwas, das dem Soldaten wesentlich vertrauter war. Zwischen den dicken Folianten und die breite Brust des Mannes war ein schimmernder Gegenstand aus Metall eingezwängt. Es war der Lauf einer kleinen Schrotflinte, ein Modell, das besonders im Zusammenhang mit den Leuten im Süden Italiens bekannt war. In Sizilien. Man nannte diese Art von Flinte Lupara. Auf Distanzen über zwanzig Meter konnte man damit nicht sehr genau schießen, aber auf kurze Distanz reichte ein Schuß aus dieser Waffe aus, um einen Mann fünf Meter weit vom Boden abzuheben.
Goldoni beschützte das Buch, das er in den Armen hielt, mit einer Waffe, die mächtiger war als die .357 Magnum, die der Soldat im Rucksack trug. Andrew richtete sein Glas kurz auf Goldonis Neffen. Der Mann hatte sich ebenfalls eine Waffe angelegt: In seinem Gürtel steckte eine Pistole, deren großer Kolben auf ihr schweres Kaliber hinwies. Die beiden Männer bewachten jenes Buch. Niemand durfte ihm nahekommen.
Plötzlich begriff Fontine. Akten über Reisen in die Berge. Es konnte nichts anderes sein. Es war ihm - oder Victor - nie in den Sinn gekommen, sich nach solchen Akten zu erkundigen. An so etwas dachte man einfach nicht.
Aber nach dem, was ihm sein Vater berichtet hatte, waren die Goldonis die besten Bergführer der Alpen. Männer, die einen solchen kollektiven Ruf zu wahren hatten, mußten Akten führen, das war etwas ganz Natürliches. Akten von Reisen in die Berge, die sie in der Vergangenheit gemacht hatten, Akten, die Jahrzehnte zurückreichten.
Goldoni hatte gelogen. Die Information, die sein Besucher gewünscht hatte, befand sich in jenem Haus. Aber Goldoni wollte nicht, daß der Besucher sie erhielt.
Andrew blickte hinüber. Der Neffe klappte den Rollstuhl zusammen, öffnete den Kofferraum des Wagens, warf ihn hinein und rannte an die Fahrerseite. Er setzte sich hinter das Steuer, während Goldonis Frau die Tür auf der Seite ihres Mannes schloß.
Der Wagen schoß mit einem Ruck hinaus und rollte in nördlicher Richtung, auf Champoluc zu. Goldonis Frau kehrte zum Haus zurück.
Der Soldat lag flach im Gras und schob langsam den Feldstecher ins Futteral zurück, während er seine nächsten Schritte überlegte. Er konnte zu dem versteckten Landrover rennen und Goldoni verfolgen, aber zu welchem Zweck, und wie groß würde das Risiko sein? Goldoni war zwar nur ein halber Mann, aber die Lupara machte seine fehlenden Beine mehr als wett. Außerdem würde sein finster blickender Neffe nicht zögern, seine Pistole einzusetzen, die in seinem Gürtel steckte.
Wenn das Journal, das Goldoni an sich preßte, war, was er argwöhnte, dann wurde es jetzt weggeschafft, um versteckt zu werden. Nicht, um vernichtet zu werden. Akten von solch unschätzbarem Wert vernichtete man nicht.
Wenn! Er mußte sicher sein, durfte sich nicht irren. Dann konnte er handeln.
Es war seltsam. Er hatte nicht damit gerechnet, daß Goldoni weggehen würde. Er hatte erwartet, daß andere zu ihm kämen. Daß Goldoni sein Haus verließ, bedeutete, daß Panik eingesetzt hatte. Ein Mann ohne Beine, der sein Haus nie verließ, fuhr nicht einfach in die Würdelosigkeit und die Unbequemlichkeit der äußeren Welt, sofern ihn nicht ein außergewöhnliches Motiv dazu trieb.
Der Soldat traf seine Entscheidung. Die Umstände waren optimal, Goldonis Frau war allein. Zuerst würde er herausfinden, ob jenes Journal tatsächlich das war, für was er es hielt, dann würde er in Erfahrung bringen, wohin Goldoni gefahren war.
Sobald er diese Dinge erfahren hatte, würde er die Entscheidung treffen, ob er Goldoni folgen oder auf ihn warten würde.
Andrew erhob sich aus dem Gras. Es hatte keinen Sinn, Zeit zu vergeuden. Er ging auf das Haus zu.
»Es ist niemand da, Signore«, sagte die hagere Frau verblüfft, und ihre Augen blickten verängstigt. »Mein Mann ist mit seinem Neffen weggefahren. Sie wollen im Dorf Karten spielen.«
Andrew stieß die Frau beiseite, ohne Antwort zu geben. Er ging auf geradem Weg durch das Haus zu Goldonis Zimmer. Dort gab es nichts außer alten Magazinen und italienischen Zeitungen. Er sah in einen Schrank. Ein häßlicher und zugleich pathetischer Anblick bot sich ihm. Im Schrank hingen Hosen, das Tuch zusammengefaltet und die Falten mit Sicherheitsnadeln festgehalten. Es gab keine Bücher, keine Journale wie das, das Goldoni
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