1976 - Das Jesus-Papier
verquollenen Augen und legte den Kopf etwas zur Seite, als versuchte er, bildhafte Erinnerungen heraufzubeschwören. Als Fontine geendet hatte, schüttelte er langsam den Kopf. »Tut mir leid, Signore. Was Sie mir vorgelesen haben, könnten zwanzig, dreißig verschiedene Pfade sein. Vieles aus dem, was Sie mir vorgelesen haben, existiert in unserem Bezirk gar nicht. Verzeihen Sie mir, aber ich glaube, Ihr Vater verwechselt das mit einigen Wegen weiter westlich im Wallis. Das kann leicht passieren.«
»Gibt es nichts, das Ihnen vertraut vorkommt?«
»Im Gegenteil. Alles und nichts. Fragmente von vielen Orten im Bereich von Hunderten von Quadratkilometern. Es tut mir leid. Es ist unmöglich.«
Andrew war verwirrt. Er hatte immer noch das sichere Gefühl, daß der Gebirgler log. Es gab noch eine andere Möglichkeit, ehe er Gewalt anwendete. Wenn sie auch ins Nichts führte, würde er zurückkehren und dem Krüppel mit einer anderen Taktik gegenübertreten.
»...sollte Alfredo nicht der Älteste sein, dann sucht nach einer älteren Schwester... «
»Sind Sie das älteste überlebende Familienmitglied?«
»Nein. Zwei Schwestern sind vor mir geboren. Eine lebt noch.«
»Wo?«
»In Champoluc. An der Via Sestina. Ihr Sohn kümmert sich um meine Felder.«
»Wie ist der Name? Ihr Familienname?«
»Capomonti.«
»Capomonti? So heißen doch die Leute, die den Gasthof betreiben?«
»Ja, Signore. Sie hat in die Familie geheiratet.«
Fontine stand auf und steckte seine Papiere ein. Als er die Tür erreichte, drehte er sich noch einmal um. »Vielleicht komme ich noch einmal zurück.«
»Es wird mir ein Vergnügen sein.«
Fontine stieg in den Landrover und ließ den Motor an. Auf der anderen Seite des Zaunes, im Feld, saß der Neffe reglos auf dem Traktor und beobachtete ihn. Der Motor seines Fahrzeugs lief im Leerlauf. Da war wieder dieses Gefühl. Der Gesichtsausdruck des Landarbeiters schien zu sagen:
Verschwinde hier. Ich muß zum Haus laufen und hören, was du gesagt hast.
Andrew löste die Handbremse und gab Gas. Der Landrover machte einen Satz nach vorn. Er riß das Steuer herum und fuhr zurück in Richtung auf das Dorf.
Plötzlich blieb sein Blick an der größten Selbstverständlichkeit hängen, die es auf der Welt gab. Er fluchte. Es war so offensichtlich, daß er es nicht bemerkt hatte.
Die Straße war von Telefonmasten gesäumt.
Es hatte keinen Sinn, an der Via Sestina nach einer alten Frau zu suchen; sie würde nicht da sein. Eine andere Strategie kam dem Soldaten in den Sinn. Die Chancen sprachen dafür.
»Frau!« schrie Goldoni. »Schnell! Hilf mir! Das Telefon!« Goldonis Frau kam ins Zimmer und griff nach der Rückenlehne des Rollstuhls.
»Soll ich anrufen?« fragte sie, während sie ihn zum Telefon rollte.
»Nein. Ich mache das.« Er wählte. »Lefrac? Kannst du mich hören?... Er ist gekommen. Nach all den Jahren. Fontini-Cristi.
Aber er hat die Worte nicht gebracht. Er sucht eine Lichtung, die nach Falken benannt ist. Sonst sagt er nichts, und das ist nichts.
Ich traue ihm nicht. Ich muß meine Schwester erreichen. Ruf die anderen zusammen. Wir treffen uns in einer Stunde... Nicht hier! Im Gasthof.«
Andrew lag ausgestreckt im Feld vor dem Bauernhof. Sein Feldstecher war abwechselnd auf die Tür und die Fenster gerichtet. Die Sonne sank hinter den Westalpen; bald würde es finster sein. Im Hof waren die Lichter aufgeflammt. Die Schatten bewegten sich vor und zurück. Reges Treiben herrschte.
Rechts vom Haus fuhr rückwärts ein Wagen heraus. Er hielt an, und der Neffe stieg aus. Er rannte zur Haustür; sie öffnete sich.
Goldoni saß in seinem Rollstuhl, seine Frau schob ihn. Der Neffe trat an ihre Stelle und begann, seinen beinlosen Onkel über den Rasen zu dem Wagen zu schieben, dessen Motor im Leerlauf brummte.
Goldoni hielt etwas in den Armen. Andrew richtete seinen Feldstecher auf den Gegenstand.
Es war ein großes Buch; nein, es war mehr als ein Buch, ein schwerer, breiter Foliant. Ein Journal.
Als sie am Wagen angekommen waren, hielt Goldonis Frau die Tür, während der Neffe den grotesk wirkenden Krüppel unter den Armen hielt und ihn auf den Vordersitz bugsierte.
Goldoni zuckte und rutschte unsicher herum. Seine Frau zog einen Sitzgurt über ihn und schnallte ihn fest.
Durch das Fenster der offenen Tür konnte Andrew den amputierten ehemaligen Bergführer deutlich sehen. Sein Glas war wieder auf das riesige Journal gerichtet, das er im Arm hielt, verzweifelt festhielt, als
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