1976 - Das Jesus-Papier
Verkäufer hinter der Theke erklärte, daß Leinkraus seit 1913 die beste Ware in den italienischen Alpen führe. Heute habe das Unternehmen Zweigstellen in Gstaad und Luzern.
Andrew stieg aus dem Landrover, ging auf den Zaun zu und winkte, um die Aufmerksamkeit des Mannes auf dem Traktorsitz auf sich zu ziehen. Er war ein gedrungen wirkender Mann mit wirrem braunem Haar über den dunklen Brauen und den kantigen, scharfen Zügen, wie sie für die nördlichen Mittelmeerregionen typisch waren. Er war mindestens zehn Jahre älter als Fontine. Sein Ausdruck wirkte vorsichtig, als wäre er es nicht gewohnt, mit Unbekannten zu reden.
»Sprechen Sie englisch?« fragte Andrew.
»Gerade ausreichend, Signore«, sagte der Mann.
»Ich suche Alfredo Goldoni. Man hat mich hierhergewiesen.«
»Da hat man Ihnen richtig geraten«, erwiderte der Mann in einem Englisch, das nicht nur ausreichend war. »Goldoni ist mein Onkel. Ich kümmere mich um sein Land. Er kann selbst nicht arbeiten.« Der Mann hielt inne, bot keine weiteren Erklärungen an.
»Wo kann ich ihn finden?«
»Wo er immer ist: im Hinterzimmer seines Hauses. Meine Tante wird Sie zu ihm führen. Er hat gern Besuch.«
»Danke.« Andrew wandte sich ab und ging auf den Landrover zu.
»Sind Sie Amerikaner?« fragte der Mann.
»Nein, Kanadier«, erwiderte er und erweiterte damit seine Tarnung für ein Dutzend möglicher Anlässe. Er stieg in den Wagen und blickte durch das offene Fenster zu dem Mann hinaus. »Unsere Sprache klingt ähnlich.«
»Sie sehen auch ähnlich aus und kleiden sich ähnlich«, erwiderte der Landarbeiter ruhig nach einem Blick auf die pelzgefütterte Windjacke. »Die Kleider sind neu.«
»Ihr Englisch nicht«, sagte Fontine. Er drehte den Zündschlüssel um.
Goldonis Frau war hager und wirkte asketisch. Sie hatte ihr glattes graues Haar zu einem Knoten zusammengefaßt, eine Krone der Selbstverleugnung. Sie führte den Besucher durch ein paar adrette, sparsam möblierte Zimmer zu einem Türstock am hinteren Ende des Hauses. Er enthielt keine Tür; man hatte sie ebenso wie die Schwelle entfernt und den Boden geglättet. Fontine trat hindurch, er befand sich jetzt im Schlafzimmer. Alfredo Goldoni saß in einem Rollstuhl am Fenster, von dem aus er die Felder am Fuß der Berge überblicken konnte.
Er hatte keine Beine. Die Stümpfe seiner einmal kräftigen Gliedmaßen waren von den Falten seiner Hose verborgen, deren Tuch mit Sicherheitsnadeln festgesteckt war. Der Rest seines Körpers war groß und schwerfällig wie sein Gesicht. Das Alter und die Verstümmelung hatten ihren Preis gefordert.
Der alte Goldoni begrüßte ihn mit unechter Energie. Ein müder Krüppel, der Angst hatte, einen Besucher zu beleidigen und für die seltenen Unterbrechungen dankbar war.
Als sie die Vorstellung hinter sich hatten und Fontine seine Fahrt geschildert und die mürrische Frau Wein gebracht hatte, setzte er sich in einen Sessel dem Krüppel gegenüber. Die Beinstümpfe waren jetzt in Reichweite; ihm kam ein paarmal das Wort »grotesk« in den Sinn. Andrew mochte Häßlichkeit nicht; er wollte nichts damit zu tun haben.
»Sie erinnern sich des Namens Fontine nicht?«
»Nein, Sir. Ein französischer Name, denke ich, aber Sie sind Amerikaner.«
»Sagt Ihnen der Name Fontini-Cristi etwas?«
Goldonis Augen veränderten sich. Ein lang vergessener Alarm war irgendwo in ihm ausgelöst worden. »Ja, den kenne ich«, erwiderte der Amputierte, und auch seine Stimme änderte sich, seine Worte klangen jetzt gemessen, abgezirkelt. »Fontine - Fontini-Cristi. So wird aus dem Italienischen französisch und der Träger des Namens Amerikaner. Es liegt viele Jahre zurück. Sind Sie ein Fontini-Cristi?«
»Ja. Savarone war mein Großvater.«
»Ein großer Padrone aus den nördlichen Provinzen. Ich erinnere mich an ihn. Nicht sehr gut natürlich. Er hat Ende der zwanziger Jahre aufgehört, nach Champoluc zu kommen, glaube ich.«
»Die Goldonis waren seine Führer. Vater und Söhne.«
»Wir waren Führer für alle.«
»Haben Sie je meinen Großvater geführt?«
»Das ist möglich. Ich habe als sehr junger Mann schon in den Bergen gearbeitet.«
»Können Sie sich nicht erinnern?«
»Ich habe in meiner Zeit Tausende in die Alpen geführt...«
»Sie sagten gerade, Sie erinnerten sich an ihn.«
»Nicht gut. Und mehr dem Namen nach. Was wollen Sie?«
»Informationen. Über einen Ausflug in die Berge, den mein Vater und mein Großvater vor fünfzig Jahren
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