1976 - Das Jesus-Papier
machten.«
»Machen Sie Witze?«
»Ganz bestimmt nicht. Mein Vater, Victor - Vittorio Fontini-Cristi -, hat mich aus Amerika herübergeschickt, diese Information zu beschaffen. Es kostet mich große Mühe. Ich habe nicht viel Zeit, deshalb brauche ich Ihre Hilfe.«
»Ich helfe gern, aber ich wüßte wirklich nicht, wo ich anfangen soll. Fünfzig Jahre... Wer erinnert sich schon an so etwas?«
»Der Mann, der sie geführt hat. Der Führer. Nach dem, was mein Vater mir sagte, war er ein Sohn Goldonis. Das Datum war der 14. Juli 1920.«
Fontine war nicht sicher: Vielleicht unterdrückte der grotesk wirkende Krüppel nur einen stechenden Schmerz in seinen Beinstümpfen, oder es konnte auch sein, daß er seine Sitzhaltung veränderte, aber jedenfalls reagierte Goldoni. Es war das Datum. Er reagierte auf das Datum und tarnte seine Reaktion schnell, indem er redete.
»Juli 1920. Das liegt zwei Generationen zurück. Unmöglich. Sie müssen noch etwas, wie sagen Sie, etwas Spezifisches wissen.«
»Der Führer. Er war ein Goldoni.«
»Nicht ich. Ich war damals höchstens fünfzehn. Ich bin jung in die Berge gegangen, aber nicht so jung. Nicht als ein prima guida.«
Andrew hielt die Augen des Krüppels mit den seinen fest. Goldoni fühlte sich in seiner Haut nicht wohl. Er mochte den starren Blick seines Besuchers nicht und sah weg. Fontine beugte sich vor. »Aber Sie erinnern sich doch an etwas, oder?« fragte er leise und konnte nicht verhindern, daß seine Stimme dabei eisig klang.
»Nein, Signor Fontini-Cristi. Da ist nichts.«
»Vor ein paar Sekunden habe ich Ihnen ein Datum genannt: 14. Juli 1920. Sie erkannten das Datum.«
»Ich wußte nur, daß es zu weit zurücklag, als daß ich darüber nachdenken könnte.«
»Ich sollte Ihnen sagen, daß ich Soldat bin. Ich habe Hunderte von Männern verhört. Nur sehr wenige konnten mich täuschen.«
»Das wäre auch nicht meine Absicht, Signore. Zu welchem Zweck? Ich würde Ihnen gern helfen.«
Andrew starrte den anderen immer noch unverwandt an. »Vor Jahren gab es Lichtungen an den Gleisen von Aosta bis Champoluc.«
»Es gibt immer noch ein paar«, fügte Goldoni hinzu. »Natürlich nicht viele. Heutzutage sind sie nicht mehr nötig.«
»Sagen Sie - jede Lichtung hatte den Namen eines Vogels... «
»Einige«, unterbrach der Krüppel. »Nicht alle.«
»Gab es da einen Falken? Einen Falken - irgend etwas?«
»Ein Falke? Warum fragen Sie das?« Der Mann blickte auf, und sein Blick war jetzt stetig, unverwandt.
»Antworten Sie! Gab es eine Lichtung, in deren Name ein Falke vorkam?«
Goldoni blieb einige Augenblicke lang stumm.
»Nein«, sagte er schließlich.
Andrew lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Sind Sie der älteste Sohn der Familie Goldoni?«
»Nein. Offensichtlich ist damals einer meiner Brüder für diese Kletterpartie angeheuert worden.«
Fontine begann zu begreifen. Man hatte Alfredo Goldoni das Haus gegeben, weil er seine Beine verloren hatte. »Wo sind Ihre Brüder? Ich will mit ihnen sprechen.«
»Ich muß Sie wieder fragen, Signore, ob Sie scherzen. Meine Brüder sind tot, das weiß jeder. Meine Brüder, ein Onkel, zwei Vettern, alle tot. In Champoluc gibt es keine Goldoni-Führer mehr.«
Andrews Atem stockte. Er nahm das Gehörte in sich auf und atmete tief. Der eine Satz hatte ihn aus dem Gleis geworfen.
»Es fällt mir schwer, das zu glauben«, sagte er kühl. »All diese Männer tot? Was hat sie getötet?«
»Eine Lawine, Signore. Achtundsechzig wurde ein ganzes Dorf verschüttet. In der Nähe von Valtournanche. Rettungstrupps kamen von so weit entfernten Orten wie Zermatt im Norden und Chatillon im Süden. Die Goldonis führten sie. Drei Nationen haben uns ihre höchsten Orden verliehen. Aber den anderen haben sie wenig genützt. Mir verschaffen sie eine kleine Pension. Ich habe die Beine verloren, weil sie mir erfroren sind.« Er tippte an die Stümpfe seiner einst muskulösen Beine.
»Und Sie haben keine Information über jene Partie am 14. Juli 1920?«
»Wie kann ich das ohne Einzelheiten?«
»Ich habe Beschreibungen. Mein Vater hat sie niedergeschrieben.« Fontine holte die fotokopierten Seiten aus der Tasche.
»Gut! Das hätten Sie gleich sagen sollen. Lesen Sie sie mir vor.«
Das tat Andrew. Die Beschreibungen waren zusammenhanglos, die Bilder, die sie heraufbeschworen, widersprüchlich. Zeitsequenzen sprangen vor und zurück, und Landmarken wurden miteinander verwechselt.
Goldoni hörte zu. Ein paarmal schloß er die
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