1976 - Das Jesus-Papier
sagen kann, was er will. Wahrscheinlich wird es gar nichts sein. Bleiben Sie bei dem Mädchen.«
Lübok hatte jetzt das Gesetz des Handelns an sich gerissen. Er entfernte Ausweise und Waffen von den Leichen der Offiziere. Im Uniformrock des einen fand er eine Spritze und sechs Ampullen mit Rauschgift. Er gab sie der Frau, die neben Fontine am Fenster saß. Sie nahm sie dankbar an und ging, ohne Fontine auch nur anzusehen, sofort daran, eine Kapsel aufzubrechen, die Spritze hastig zu füllen und den Inhalt in ihren linken Arm zu injizieren.
Dann packte sie Spritze und Ampullen wieder sorgfältig ein und steckte sie sich in die Manteltasche. Sie lehnte sich zurück und atmete tief.
»Fühlen Sie sich besser?« fragte Fontine.
Sie drehte sich herum und sah ihn an. Ihre Augen wirkten jetzt ruhiger und drückten nur noch ihre Verachtung aus. »Verstehen Sie, Hauptmann, ich fühle nichts. Es gibt keine Gefühle mehr. Man lebt nur weiter.«
»Was werden Sie tun?«
Sie wandte den Blick von ihm ab und wieder zum Fenster hinaus. Dann antwortete sie leise, fast verträumt - so als befände sie sich in einer anderen Welt: »Leben, wenn ich kann. Das hängt nicht von mir ab. Das hängt von Ihnen ab.«
Im Mittelgang regte sich der Flugbegleiter. Er schüttelte den Kopf und richtete sich halb auf. Ehe er klar sehen konnte, stand Lübok vor ihm, die Pistole auf seinen Kopf gerichtet.
»Wenn Sie am Leben bleiben wollen, werden Sie in Mühlheim genau das tun, was ich verlange.«
In den Augen des Soldaten stand Gehorsam geschrieben.
Fontine stand auf.
»Und was ist mit der Frau?« flüsterte er.
»Was soll mit ihr sein?« fragte Lübok.
»Ich möchte sie mit uns herausholen.«
Der Tscheche fuhr sich verzweifelt mit der Hand durchs Haar. »O Gott! Nun, entweder das, oder wir müssen sie töten. Die würde mich für einen Tropfen Morphium identifizieren.« Er blickte auf die Frau hinunter. »Sagen Sie ihr, sie soll sich saubermachen. Hinten ist ein Regenmantel. Den kann sie sich überhängen.«
»Danke«, sagte Victor.
»Nicht nötig«, erwiderte Lübok. »Ich würde sie sofort töten, wenn ich das für die bessere Lösung hielte. Aber sie könnte uns nützlich sein. Sie war mit einer Kommando-Einheit zusammen. Einer Kommando-Einheit an einem Ort, wo wir nicht wußten, daß es welche gibt.«
Die Männer der Resistance erwarteten ihren Wagen auf einer Nebenstraße vor Lörrach in der Nähe der französischschweizerischen Grenze. Victor erhielt saubere, wenn auch ausgefranste Kleidung, die er mit der deutschen Uniform vertauschte. Sie überquerten den Rhein bei Einbruch der Nacht. Die Frau wurde in ein Lager der Resistance in den Bergen gebracht; sie war zu benommen, zu wenig zuverlässig, um die Reise nach Süden bis Montbeliard mitmachen zu können.
Der Flugbegleiter wurde einfach weggebracht. Fontine äußerte sich nicht dazu. Er dachte an einen Caporale einer anderen Armee an einem Pier in Celle Ligure.
»Ich verlasse Sie jetzt«, sagte Lübok und ging am Flußufer auf ihn zu. Der Tscheche hielt ihm die Hand hin.
Fontine war überrascht. Der Plan war ursprünglich gewesen, daß Lübok mit ihm nach Montbeliard fahren sollte. London würde dort vielleicht neue Anweisungen für ihn haben. Er ergriff Lüboks Hand und protestierte.
»Warum? Ich hatte gedacht...«
»Ich weiß. Aber die Dinge ändern sich. Es gibt Probleme in Wiesbaden.«
Victor hielt die Hand des Tschechen mit der rechten fest und legte die linke Hand darauf. »Es fällt mir schwer, die richtigen Worte zu finden. Ich schulde Ihnen mein Leben.«
»Was auch immer ich getan habe, Sie hätten bestimmt das gleiche getan. Daran habe ich nie gezweifelt.«
»Sie sind ebenso großzügig wie tapfer.«
»Dieser griechische Priester hat gesagt, ich sei ein degenerierter Perverser, der halb Berlin erpressen könnte.«
»Könnten Sie das?«
»Wahrscheinlich«, antwortete Lübok und sah zu einem Franzosen hinüber, der ihn zum Boot winkte. Er nickte kurz, um anzudeuten, daß er ihn gesehen hatte. Dann wandte er sich wieder Victor zu. »Hören Sie«, sagte er leise und zog ihm die Hand weg. »Der Priester hat Ihnen noch etwas gesagt. Daß ich für Rom tätig sei. Sie sagten, Sie wüßten nicht, was das bedeuten würde.«
»Das weiß ich auch nicht. Aber ich bin nicht blind. Es hat mit dem Zug aus Saloniki zu tun.«
»Es hat alles damit zu tun.«
»Dann arbeiten Sie für Rom? Für die Kirche?«
»Die Kirche ist nicht Ihr Feind. Glauben Sie das, bitte.«
»Der
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