1980 Die Ibiza-Spur (SM)
Schollen hinweg zur festen Eisdecke zurückkehren zu können. Während einer einzigen Fahrt sechs- oder siebenmal umgestiegen zu sein, galt als gute Leistung. Achtmal umsteigen war sehr gut, neunmal hervorragend, und die Zehn war die Traumnote, die Victor im Winter davor geschafft hatte. Klaus als der wesentlich Jüngere hatte es immerhin auch schon auf sechsmal gebracht. Doch was Jürgen Wenzel, dem Nachbarjungen, einmal gelang, war das ganz große Abenteuer, das sich die beiden Hemmerich-Brüder noch nicht zutrauten, das Erreichen des anderen Ufers nach etwa zwanzigmaligem Umsteigen. Auch das war im vergangenen Jahr passiert, und immer noch galt es unter den Blankeneser Jungen als strittig, ob dieses ›ganz große Abenteuer‹ von vornherein geplant gewesen oder von dem in die Mitte der Fahrrinne geratenen Jürgen Wenzel nur als letzte Möglichkeit der Rettung gewählt worden war. Der Junge behauptete immer wieder, die Überquerung sei von Anfang an sein Ziel gewesen, dagegen sprach jedoch, daß er den Rückweg anders gestaltete, zwar auch mit mehrmaligem Umsteigen, doch diesmal betraf es die Fahrzeuge vom Hamburger Verkehrsverbund, so daß er nach etlichen Bus- und U-Bahnfahrten Stunden später nach Blankenese zurückgekehrt war.
Noch einmal erinnerte Victor, nach einem Blick auf seine Uhr, an die Birnen, die Bohnen und den Speck, die den winterlichen Ferientag zu einem Fest machen sollten, und Klaus antwortete:
»Ein letztes Mal noch!«
Mit diesen Worten setzte der Neunjährige über auf ein prächtiges Eisschiff von wohl vier Metern Länge. Es gab sogar eine Sitzgelegenheit. Die Fläche bestand nämlich aus zwei Schollen, die sich ineinandergeschoben und an der Nahtstelle einen fast kniehohen Höcker aufgeworfen hatten. Darauf setzte Klaus Hemmerich sich, und dann fuhr er, stolz wie ein Passagier der Ersten Klasse, stromab.
Natürlich behielt er den festen Saum im Auge, stand auch schon bald wieder auf, um sprungbereit zu sein, sei es für die Rückkehr ans Ufer, sei es zum Umsteigen, doch plötzlich drehte die Scholle sich und driftete der Fahrrinnenmitte zu. Er wollte springen, aber da betrug der Abstand schon mehr als zwei Meter, und das war zuviel für einen Neunjährigen, der keinen Anlauf nehmen konnte und zum Absprung nur eine schwankende, gefährlich glatte Basis hatte.
Er suchte nach einer Umsteigemöglichkeit, aber es war wie verhext: Seine Scholle trieb allein, und in Sekunden hatte sie ihren Kurs um fünf, sechs Meter seitlich verschoben. Er geriet in Panik, sah entsetzt zu seinem Bruder hinüber, der jetzt, parallel zu ihm, mitlief, ohne helfen zu können. Sein Fahrzeug, das er nun gar nicht mehr so schön fand, wurde schneller, und mehr und mehr löste es sich aus dem Verbund der übrigen großen und kleinen Eisinseln. Ein paar Rufe hin und Her.
»Ich kann nicht zurück! Soll ich jetzt ins Wasser springen?«
»Nein! Auf keinen Fall! Die Strömung ist viel zu stark, und es ist zu kalt!«
»Was soll ich machen?«
Darauf wußte Victor keine Antwort. Er lief nur, lief neben der Fahrrinne her und sah immer wieder voller Entsetzen hinüber zu Klaus, der da hilflos auf seiner Eisscholle stand und sich mit jedem Augenblick weiter von ihm entfernte. Und dann geschah etwas, was Klaus Hemmerich nie in seinem Leben vergessen würde.
Victor überholte ihn. Er machte, entlang der Fahrrinne, einen regelrechten Spurt. Und als er, wenn auch seitlich um ein Dutzend Meter versetzt, der einsam treibenden Scholle mit ihrem vor Angst zitternden Fahrgast um ein gutes Stück voraus war, tat er genau das, was er noch wenige Augenblicke vorher dem kleinen Bruder verboten hatte. Nachdem er, noch im Laufen, seine dicke Winterjacke abgestreift und hinter sich geworfen hatte, sprang er ins Wasser. Er schwamm auf die Mitte der Fahrrinne zu, wehrte dabei, so gut es ging, die von links auf ihn einwirkende Strömung ab, und, tatsächlich, nach einem verzweifelten Kampf gegen die Drift und gegen die Eiseskälte traf er auf die Scholle, packte die Kante mit seinen erstarrten Händen, wollte sich hinaufschwingen. Doch sie brach ab. Er versuchte es wieder, Klaus streckte ihm die Hand hin und zog, und wieder hielt die Scholle die Belastung nicht aus. Das Eis, das er schon halb erklommen hatte, brach unter seinem Oberkörper weg. Erst der dritte Versuch glückte, denn mittlerweile hatte er sich so weit vorgearbeitet, daß die Schicht stark genug war, um ihn zu halten. Er kletterte hinauf.
Doch was war damit gewonnen? Diese Frage hatte
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