1980 Die Ibiza-Spur (SM)
Klaus Hemmerich sich seitdem viele Male gestellt, und er stellte sie sich auch jetzt wieder. Was war gewonnen mit diesem tollkühnen Sprung in die eisige Elbe, da doch durch ihn nichts anderes sich ergeben hatte, als daß statt nur eines nun zwei Hemmerichs in Gefahr waren, in die offene Nordsee zu treiben und zu ertrinken? Und dennoch, er erinnerte sich seiner Empfindung genau, es war unendlich viel gewonnen, denn die Nähe des großen Bruders hatte ihm die Angst genommen. Und auch, was in Victor vorgegangen sein mochte, hatte Klaus sich oft vorzustellen versucht, und immer wieder war er zu dem Schluß gekommen. Ein kühles Einschätzen der Realität konnte nicht stattgefunden haben, denn auch der um fünf Jahre Ältere war nicht in der Lage gewesen, die Gefahr abzuwenden oder zu verringern. Also mußte es ein irrationaler Zwang gewesen sein, der ihn ins Wasser trieb, ein Impuls, der jede Überlegung ausschaltete und mächtiger war als die eigene Angst.
Fast eine Stunde trieben die Brüder auf ihrem brüchigen Floß elbabwärts, vorbei an Neßsand und Hanskalbsand, vorbei auch an der rechterhand gelegenen großen Ortschaft Wedel, zu der Schulau gehört, von wo sie sich Hilfe erhofften, weil dort immer Leute waren, die die ankommenden und auslaufenden Schiffe beobachteten. Victor und Klaus winkten hinüber, doch ehe von dort aus ein Rettungstrupp aufgestellt und in Marsch gesetzt wurde, um mit Hilfe einer Wurfleine die immer schneller werdende Scholle ans Ufer zu ziehen, kam Hilfe von anderer Seite. Der Kapitän eines heimkehrenden Kutters sah das Floß auf sein Fahrzeug zukommen. Er stoppte, legte sein Schiff schräg zum Kurs der herannahenden Eisscholle, ließ sie an seiner Backbordseite auflaufen, und während einer der Fischer mit dem Bootshaken das Floß festhielt, zog ein anderer die bis ins Mark durchgefrorenen Jungen an Bord. Victors Kleider waren hart wie Asbest, und in seinem Haar hingen kleine Eiszapfen. Auch Klaus zitterte vor Kälte, aber mit Wolldecken und heißem Tee schafften es die Seeleute, die beiden wieder aufzuwärmen. Über Funk und Telefon wurde die Mutter benachrichtigt. Sie kam mit dem Taxi zum Anleger und nahm dort ihre Söhne in Empfang. Für Victor hatte sie trockene Kleidung mitgebracht.
Und am Abend gab es in dem Blankeneser Haus Birnen, Bohnen und Speck. Es war ein Wunder, daß die Hemmerich-Brüder ihr Abenteuer, das noch um einiges aufregender verlaufen war als das von Jürgen Wenzel, ohne größere gesundheitliche Schäden überstanden. Ihren Schnupfen hatten sie schnell auskuriert. Victors Armbanduhr allerdings war nicht mehr zu reparieren.
XXVIII.
Er kam wieder an eine Abzweigung, hielt, schaltete die Innenbeleuchtung an, sah auf die Karte und stellte fest, daß er nun zwei Möglichkeiten hatte, zur Bleimine zu gelangen, entweder über Santa Eulalia, und zwar auf dem Weg, den er schon kannte, oder auf einer Nebenstrecke, die südlich der Sierra San Vicente verlief, dann auf San Carlos stieß und es ihm ermöglichte, sich von Norden her der Mine zu nähern. Dieser Weg war zwar länger, aber er entschied sich dennoch für ihn, weil er auf diese Weise die Durchfahrt durch das hell erleuchtete Santa Eulalia vermeiden konnte.
Er startete wieder. Immer seltener geschah es, daß er hinter sich oder voraus die Lampen anderer Fahrzeuge sah, und nachdem er auf die Nebenstrecke abgebogen war, hatte die vom Mond beschienene, sonst aber lichtlose Straße fast etwas Unheimliches, und dieser Eindruck wurde von der dunklen Flanke der Berge noch verstärkt.
Er erreichte San Carlos, durchfuhr den Ort, und wenige Augenblicke später ging es nach Süden. Als er dann wieder links eingebogen war – er befand sich nun schon auf der Straße nach Ca’n Jordi –, schaltete er die Lampen aus. Etwa anderthalb Kilometer fuhr er im Dunkeln. Dann stellte er den Peugeot auf dem schmalen Seitenstreifen ab, stieg aus.
Lange stand er am Wegrand, gegen die Wagentür gelehnt, und sah hinüber zum Wasserturm, dessen Silhouette er schwach erkennen konnte und den er in so grauenvoller Erinnerung hatte. Er zündete sich eine Zigarette an, schirmte dabei mit der Hand die Flamme des Feuerzeugs ab.
Zunächst war zu überlegen, wo der Wagen bleiben sollte. Je weiter ich mich in die Gefahrenzone hineinbegebe, dachte er, desto einfacher ist es nachher, von da wieder wegzukommen, denn natürlich kann Victor nicht spurten wie zum Beispiel damals auf dem Eis. Vielleicht kann er nicht mal gehen, und ich muß ihn mir auf
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