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1980 Die Ibiza-Spur (SM)

1980 Die Ibiza-Spur (SM)

Titel: 1980 Die Ibiza-Spur (SM) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hinrich Matthiesen
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der Landkarte hatte er gesehen, daß er den Weg über Ibiza-Stadt und den Club ROCA LLISA vermeiden konnte, wenn er sich landeinwärts hielt und erst später zur Küste vorstieß. Es gab in San Rafael eine Abzweigung, die zunächst ein Stück nach Norden, dann östlich verlief und nach Santa Eulalia führte. Diesen Weg wählte er.
Es war eine einsame Straße. Nur ganz selten sah er voraus oder im Rückspiegel die Lichter anderer Fahrzeuge. Er war ruhig, empfand eine Ausgewogenheit, die in seltsamem Widerspruch stand zu den Gefahren dieser Nacht. Gewiß machte es etwas aus, daß er das Minengelände nun schon zweimal durchstreift hatte und also eine relativ gute Ortskenntnis besaß. Lebhaft erinnerte er sich seiner letzten Fahrt dorthin, sie hatte ihn viel mehr belastet, als sein jetziger Weg es tat, denn der Abstieg in den Schacht hatte der Suche nach einem Toten gegolten. Jetzt ging es darum, den Lebenden zu finden. Er spürte es, hatte es schon während des letzten Gesprächs mit Rüdiger Herles empfunden. Die drastische Veränderung der Perspektive hatte ihn entschlossener gemacht, auch härter und rigoroser gegenüber der BRAUNEN KOLONNE. Vorher war die Trauer dagewesen, die Trauer und der Zorn. Sie hatten ihn zwar zum Handeln bewogen, aber zugleich tief deprimiert. Nun aber existierte ein ganz anderes Motiv, die Rettung. Immer wieder malte er sie sich aus, das Tasten durch die unterirdischen Gänge. Herles hatte von den querschlägigen Strecken gesprochen, die den Stollen zum Labyrinth machten. Zum Teil waren sie gezimmert, zum Teil gemauert und zu einzelnen verschließbaren Kammern umgebaut worden. Dort lagerte das Kriegsgerät. Einer dieser unterirdischen Räume, so hatte der Gefangene ausgesagt, sei als Kerker eingerichtet worden, und dort müsse der Gefangene liegen, zwar hinter einer verschlossenen Tür, aber den Schlüssel hatte der Wächter in dem kleinen Haus, das man vor das Mundloch des Stollens gesetzt habe. Und weiter malte sich seine Phantasie die Befreiung aus. Wie er an den schweren metallenen Türen die verschiedenen Schlüssel ausprobiert, in jede Kammer hineinleuchtet, und wie dann plötzlich, kauernd in dem steinernen Verlies, Victor seine Augen abwendet, weil das Licht sie schmerzt. Und wie dann er, Klaus, sich hinabbeugt zu dem leidgezeichneten Gesicht, es in seine Hände nimmt, es hält.
Aber plötzlich schweiften seine Gedanken ab, gingen zurück, einen langen Weg, über viele Jahre hin.
Ein Wintertag mit klirrendem Frost. Die Elbe zugefroren, nur die Fahrrinne immer wieder von den aus- und einlaufenden Frachtern oder auch von den Eisbrechern freigepflügt. Ein harter Tag für die Seeleute. Ein schöner Tag für die Kinder, die sich hier und dort am Ufer tummelten, meist in Rudeln. Zu einem dieser Rudel, das sich in der Nähe von Blankenese austobte, gehörten die beiden Hemmerich-Brüder. Da das lustige Treiben schon seit Stunden ging, waren die Spiele so gut wie durch, das Rodeln, das Schlittschuhlaufen, das Schleistern oder Glitschen auf den bis zu zwanzig Meter langen polierten Eisbahnen, das Schneeballwerfen, bei dem es sogar blutige Ausschreitungen gegeben hatte, weil es nicht immer nur Schneebälle waren, mit denen geworfen wurde, sondern dann und wann auch Eisbrocken.
Ein Mittag mit fahler Sonne. Victor war vierzehn und hatte schon eine Armbanduhr. Es fehlte noch eine Dreiviertelstunde bis zum Essen. Er gab seinem neunjährigen Bruder einen freundschaftlichen Rippenstoß und rief aus: »Du, heute gibt’s Birnen, Bohnen und Speck!« Dann warf er den Kopf in den Nacken und streckte seine Zunge ungebührlich weit heraus, so als gelte es schon jetzt, sich die Speckstücke zu sichern, und sein warmer Atem ging wie ein Rauchzeichen in die Höhe. »Aber wir haben noch etwas Zeit«, sagte er dann, »schippern wir noch ein bißchen!«
Sie lösten sich aus der Gruppe, gingen über das mehrere Zoll dicke Eis, kamen an die Fahrrinne, in der die großen und kleinen Eisschollen wie weiße Flöße seewärts trieben.
Das »Schippern« war ein gefährlicher Sport, aber sie beherrschten ihn leidlich, hüpften immer wieder vom festen Saum aus auf eine der vorübergleitenden Platten, suchten sich meistens eine große, stabile aus, fuhren eine kleine Strecke und sprangen zurück auf das künstliche Ufer. Das wichtigste war, entweder sich nicht mehr als nur eine Sprungweite vom sicheren Saum zu entfernen oder aber darauf zu achten, daß es genügend Umsteigemöglichkeiten gab, um dann über mehrere

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