1981 - Richard
in dem sich noch einmal etwa dreißig Fotografien befanden, die auf dickem Papier abgezogen waren. Er drehte den Karton um und schüttelte die Bilder auf den Tisch. Er schob die Aufnahmen zusammen und nahm sie in einem Packen auf. Jede Fotografie trug auf der Rückseite eine Jahreszahl, mit einem dünnen Bleistift oder Graphitstift geschrieben. Er ging Bild für Bild durch, sah sich das Datum an und legte jedes einzelne gleich wieder in den Karton zurück. Es waren ähnliche Motive, wie schon auf den Dias, Straßenszenen, Märkte, Gruppen von Menschen bei einer Feier oder Versammlung. Mehrere Fotografien zeigten wieder den Hafen von Papeete, alle datiert auf das Jahr 1907. Georg hatte mittlerweile gut die Hälfte aller Bilder durchgesehen, als er etwas fand, das ihn überraschte. Er hielt das Foto einer jungen Frau in der Hand. Sie war sicherlich nicht älter als achtzehn, trug ein leichtes, hochgeschlossenes Kleid und hatte nach oben gesteckte, lange Haare. Obwohl sie gut zehn Jahre älter war als auf den Fotos, die Georg in seiner Jackentasche bei sich trug, erkannte er sie sofort. Es war tatsächlich das kleine Mädchen mit dem Sonnenhut, es war Julie Jasoline. Er hielt kurz die Luft an. Er hatte nicht damit gerechnet, so schnell auf eine Spur von ihr zu stoßen, nicht nachdem Misserfolg von heute morgen im Rathaus. Der Fotorückseite zu Folge stammte die Aufnahme aus dem Jahr 1911. Er sah sich das Bild lange an, dann fiel ihm ein, dass es auch Julies Schwester, Thérèse Pallet sein konnte. Sie waren schließlich Zwillinge. Er schob den Gedanken bei Seite. Es war egal. Die junge Frau stand am Meer. Das Wasser glitzerte matt und ein Holzgeländer war verschwommen im Hintergrund zu erkennen. Er legte die Aufnahme neben den Karton, noch hatte er nicht alles gesichtet. Er hatte jetzt aber die Hoffnung, noch weitere Fotografien zu finden. Die Gruppenbilder sah er sich genauer an. Er holte sogar noch einmal die Aufnahmen aus dem Karton, die er bereits gesichtet hatte, um ihr Gesicht zu entdecken, unter den Menschen, die vor einem Geschäft standen oder die gemeinsam unter freiem Himmel aßen. Er hatte aber kein Glück mehr. Die Aufnahme von der jungen Frau, zu der Julie Jasoline geworden war, blieb das einzige, was er fand. Er packte alle anderen Aufnahmen zusammen und legte sie endgültig zurück in den Karton. Er nahm die Fotografie, legte sie auf die Tischplatte und beugte sich dicht darüber. Er konnte ihr Gesicht jetzt genau sehen und er bildete sich ein, sie schon lange zu kennen. Dann dachte er doch wieder an ihre Schwester Thérèse. Seine Jacke hing neben ihm über dem Stuhl. Er griff in die Innentasche und holte den Umschlag mit seinen Unterlagen heraus. Er hatte auch das Bild von Thérèse Pallet bei sich, die Aufnahme aus den sechziger Jahren. Er faltete das Blatt auseinander und strich es noch einmal glatt. Er legte es neben die Fotografie von 1911 und verglich das Aussehen der beiden Frauen miteinander. Die Ähnlichkeit war schon sehr deutlich. Er überlegte noch eine Minute, sah einfach nur auf das, was vor ihm lag. Dann faltete er das Bild wieder zusammen und steckte es in den Umschlag zurück. Er zog sein Jackett an, nahm den Umschlag und die Fotografie von 1911, ging hinaus auf den Flur und zurück in den Verkaufsraum. Die Angestellte stand am Tresen und drehte sich zu ihm um, als er eintrat.
»Haben sie etwas gefunden?«
Georg zeigte die Fotografie. »In dem letzten Karton, den sie mir gebracht haben, gab es etwas, das mich interessiert. Ich möchte es gerne kaufen.«
»Kein Problem.«
Sie nahm die Fotografie und überlegte.
»Eigentlich kostet es zweihundertfünfzig Francs, aber ich gebe es Ihnen für zweihundert.«
Georg zog einen Fünfhundert-Franc-Schein aus seiner Geldbörse. »Bitte, nehmen sie den Rest für ihre Kaffeekasse, sie haben doch eine Kaffeekasse?«
Sie nickte. »Danke Monsieur, wir trinken eine Menge Kaffee hier.«
Georg grüßte noch einmal in die Richtung ihres Kollegen, der wie unbeteiligt am Tresen etwas notierte, dann verließ er das Geschäft. Draußen auf der Straße war die Wärme des Tages deutlich zu spüren. Alle Räume des Fotolabors waren klimatisiert, so dass er jetzt zu schwitzen begann. Er zog Bilanz. Bei den Behörden hier auf Tahiti hatte er bislang keinen Erfolg. Vielleicht lag es auch an dem Mann, an den er geraten war. In Frankreich war es anders, wo er mit Liane DeFoube viel Glück gehabt hatte. Es wäre sonst genauso schwierig gewesen und er hätte
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