1986 Das Gift (SM)
den Tieflandzonen von Süd-Texas und Tamaulipas vorgelagerte Küstenregion der Lagunen, Inseln und Nehrungen vermutete. Und richtig, wenige Minuten später meldete sich die Stimme aus dem Cockpit:
»Wir überfliegen jetzt das Mündungsgebiet des Rio Grande …«
Obwohl er in Deutschland geboren war und dort seine Kindheit und Jugend verbracht hatte, beschlich ihn bei der Erwähnung des berühmten Grenzflusses das Gefühl, nach Hause zu kommen.
Es war ein großes, ein überraschendes Resultat, das sie mitbrachten. »Wir brauchen Anhaltspunkte, die nach vorn weisen …«, hatte Jerónimo gesagt, und die lagen nun vor. Die Fahnder waren nicht mehr auf die verquollenen Gesichter der beiden toten Europäer angewiesen, sondern konnten auf Fotos zurückgreifen, die zu Lebzeiten gemacht worden waren.
Aber sie hatten noch mehr erreicht! Gesichter, Namen und Biographien von zwei neuen Männern waren hinzugekommen. Er griff in das neben ihm liegende Bordcase, holte eine Akte heraus, schlug sie auf, las:
»Wobeser, Richard …«
Daten und Fakten, die er mittlerweile fast auswendig kannte, hatte er sie doch, zusammen mit den Männern des BKA, ausgewertet und dann telefonisch nach Acapulco durchgegeben. Offenbar handelte es sich hier um die Stationen eines Abenteurers. Der Mann war Pilot, hatte vorwiegend im Ausland gelebt, zunächst in Kanada, dann in Südafrika, schließlich in Bolivien. Er sprach, wie weiter im Dossier zu lesen stand, englisch und spanisch. Er war mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt geraten, und noch im Frühjahr hatte seine Adresse gelautet: Strafanstalt Lauerhof bei Lübeck. Das Delikt, das ihn dorthin gebracht hatte: versuchter Juwelendiebstahl.
Paul Wieland sah sich das Foto an. Wenn er mir über den Weg liefe, dachte er, sich vielleicht sogar als Gast in meinem Hotelregister eintrüge, würde ich ihm trauen. Er hat gute Augen. Augen, die Verläßlichkeit ausstrahlen. Er hielt das Bild schräg, und die veränderte Perspektive ergab einen neuen Eindruck: Härte. Eine Spur nur, aber sie war unverkennbar. Na ja, dachte er, Härte kann durchaus positiv sein, kann auf Willensstärke hinweisen, auf Mut, Disziplin und Entschlossenheit. Was für rauhbeinige Burschen hatten wir damals an Bord, die es aber nicht über sich brachten, im Laderaum eine Ratte totzuschlagen. Also bleibt’s dabei: Ich würde diesen Mann ohne Bedenken in mein Haus einlassen. Und wahrscheinlich würde er mich nicht enttäuschen, würde nicht abreisen, ohne seine Rechnung bezahlt zu haben. Aber ein Zwanzig-MillionenDollar-Ding mit ein paar Toten rechts und links, das ist ihm offenbar zuzutrauen, auch wenn ich davon in seinen Augen nichts lesen kann!
Er legte die Akte in den Koffer zurück, nahm eine zweite heraus, schlug sie auf. Ein anderer Name, ein anderes Foto, eine andere Biographie:
»Dr. Leo Schweikert, Chemiker …«
Auch diesen Augen würde er trauen. Es waren dunkle Augen. Keine Härte darin, auch nicht nach dem Ausprobieren verschiedener Blickwinkel. Trotzdem irritierten sie ihn. Dabei ging nichts Bedrohliches von ihnen aus. Eher Melancholie. Ihm fiel ein, daß Petra gesagt hatte, als Richter würde er die Täter wohl sofort hängen, ganz im Gegensatz zu ihr, die erst einmal untersuchen würde, wie sie zum Bösen gekommen seien. Sie hat recht, dachte er, und ich gäbe viel darum, mit diesem Mann sprechen zu können.
Wenig später fiel ihm eine andere Bemerkung ein. Peralta war es gewesen, der erklärt hatte, solche Burschen seien mit allen Wassern gewaschen, sie kennten die ganze Klaviatur. Er hatte sich dabei auf eine Durchsage der Erpresser bezogen, auf den dramatischen Tonfall. Vielleicht, dachte Paul Wieland, trifft das auch auf ihre Augen zu, auf ihre Gesichter. Wenn es so ist – er blickte noch einmal auf das Foto von Leo Schweikert –, dann sind diese Augen ein Schutz, eine Maske, hinter der das Böse sich versteckt hält. Man sagt, Gesichter sind lesbar wie aufgeschlagene Bücher, aber da hab’ ich jetzt meine Zweifel.
Die Beamten des BKA hatten es innerhalb weniger Stunden herausgefunden: Dieser Mann war Chemiker, hatte wegen eines Umweltverbrechens eine anderthalbjährige Freiheitsstrafe verbüßt, war zusammen mit Wobeser, Brüggemann und dem Spanier Ortiz in derselben Haftanstalt gewesen, und die vier waren fast zur gleichen Zeit entlassen worden. Eine Rückfrage bei der Anstaltsleitung hatte ergeben, daß eine mehrstündige Zusammenkunft der Männer kurz vor dem ersten Entlassungstermin stattgefunden hatte, und
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