1988 VX (SM)
schnappt man doch was auf, Namen, Daten, Treffpunkte! Man kriegt mal ’ne Tätowierung zu sehen, lernt die Autos kennen, die die Brüder fahren, hört Telefongespräche mit. Wenn wir über ihn nur einen einzigen der Gruppe kriegten, könnten wir’s einrichten, daß bei einem von uns die Sicherungen durchbrennen, wie der Boss gemeint hat.«
»Willst du dieser eine sein?«
»Bewahre!«
»Na, siehst du? Ich auch nicht! Ist ’n heikles Unternehmen. Ich wüßte nicht mal so richtig, wie ’s gemacht werden sollte.«
»Das ist doch wohl klar!«
»Folter?«
»Was sonst? Ehrlich gesagt, ich versteh’ Schattner ganz gut. Ist ’ne Güterabwägung. Spielen wir den Fall doch mal durch! Da ist jemand, der zum Abschaum gehört, denn er hat gemordet. Und er weiß, wo die VX-Granaten liegen. Was haben wir dann auf den beiden Waagschalen? Auf der einen die Möglichkeit, daß Tausende qualvoll sterben müssen, lauter unschuldige Leute. Auf der anderen Schale haben wir einen Mörder. Und wir wissen genau, durch speziellen Umgang mit dem Mann können wir rauskriegen, wo die Granaten sind, können also den tausendfachen qualvollen Tod verhindern. Sollten wir wirklich die vielen Menschen über die Klinge springen lassen, bloß um diesen einen im Schutz des Gesetzes zu belassen? Eines Gesetzes übrigens, das er selbst auf übelste Weise verletzt hat? Könntest du das verantworten?« Lemmert wartete die Antwort nicht ab, sprach gleich weiter: »Ich weiß, was jetzt kommt! Wenn nicht von dir, dann von der Kirche oder von sonst einem unheilbar Barmherzigen: die Menschenwürde, auf die selbst das übelste Subjekt einen Anspruch hat! Aber was ist dann mit der Menschenwürde der Opfer? Und noch was! Kann gut sein, daß er es war, der Jeff Haggerty den Fingernagel gezogen hat. Aber ich will gar nicht sagen: Auge um Auge, Fingernagel um Fingernagel! Ganz was anderes will ich sagen: Unser Freund könnte auf die denkbar einfachste Weise verhindern, daß einer von uns die Nerven verliert und ihm die Arme auskugelt und die Eier zerquetscht oder von mir aus auch nur eins, damit er noch eins hat, wenn er mal wieder rauskommt. Also, er hätte doch die ganz große Chance, jeglicher Folter von vornherein zu entgehen, könnte doch freiwillig sagen, wo die verdammten Granaten liegen! Indem er das nicht tut und damit Tausende zum Tode verurteilt, so daß als Reaktion darauf nur noch die Folter bleibt, ist er es, der die Güterabwägung vornimmt! Leuchtet dir das ein?«
»Mein Gott, Conny, wir haben an die hundertmal darüber geredet!«
»Ja, und sind nie zu einem Ende gekommen. Haben zum Schluß immer nur gesagt, wir dürften das Recht, das wir schützen sollen, nicht unterlaufen. Allmählich finde ich, das gilt nur bis zu einer gewissen Grenze.«
»Und wo soll die liegen? Willst du sie bestimmen?«
»Schattner sieht sie offenbar als überschritten an. Aber belassen wir’s dabei! Ich fürchte ohnehin, die Katastrophe tritt ein, bevor wir überhaupt eine Chance haben, Golombek zu schnappen.«
»In ganz Europa wird nach ihm gefahndet. Auch nach seiner Frau.«
»Ja, und die hätte ich um ein Haar erwischt und damit vermutlich auch ihn!« Ächzend stand Lemmert auf. »Ich glaube, nun ist Schlafenszeit. Wir wissen nicht, was uns heute noch blüht, und mit jeder zusätzlichen Stunde Schlaf auf dem Konto sind wir besser.«
»Hast recht.« Ahrens sah auf die Uhr. »Und die Kinder sind ja jetzt in der Schule! Die mögen es ganz und gar nicht, wenn ihr Vater gebeutelt nach Hause kommt. Da muß ich mich immer gewaltig zusammenreißen.« Er stand nun auch auf, und dann gingen beide zur Tür.
»Vielen Dank für den Kaffee!«
»Kannst du damit überhaupt schlafen?«
»Bestimmt. Hoffentlich sehen wir uns nicht so bald wieder!«
»Ich fürchte, heute mittag geht es weiter. Mach’s gut.« »Du auch.«
Lemmert schloß die Tür ab. Er spielte noch ein bißchen Billard, rauchte dabei eine letzte Zigarette. Um Viertel nach neun legte er sich ins Bett, war zwei Minuten später eingeschlafen.
8.
Was das Nautische betraf, war es für den Kapitän zunächst eine Reise wie jede andere. Sein von der Bundeswehr gechartertes Fährschiff ALBATROS fuhr seit anderthalb Stunden mit Kurs Nordost und befand sich nun mitten in der Lübecker Bucht zwischen dem westdeutschen Küstenort Dahme und dem DDR-Bad Kühlungsborn. Die gewohnte Route führte an der dänischen Insel Lolland vorbei nach Trelleborg. Diesmal jedoch würde es anders sein. Jenseits von Fehmarn war ein Schwenk von
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