1988 VX (SM)
Nordost auf Nordwest fällig, denn das Ziel hieß Oslo.
Auf der Brücke verlief alles wie sonst, nicht aber auf dem übrigen Schiff. Die Passagiere waren keine Ferienreisenden, sondern Soldaten, und nicht Privatwagen standen auf dem Autodeck, sondern Mannschaftstransporter, Militärlaster und Haubitzen. Auch in der Küche gab es Veränderungen. Neben dem Koch der ALBATROS und seinen Helfern hantierten mehrere Soldaten über den chromblitzenden Herdplatten.
Das Schiff fuhr mit zwölf Knoten. Es war ein sonniger Tag. Der Wind hatte Stärke fünf, so daß die hochbordige schneeweiße Fähre schwankte und die ersten Landser über der Reling hingen.
Oberleutnant Stapelfeld, Fahnenjunker Jöns und Hauptgefreiter Ruhnke waren beieinander geblieben. Sie saßen im Windschatten der Aufbauten auf den Decksplanken und unterhielten sich. Gleich ihnen hatten sich viele andere der hundertsechzig Soldaten nach oben begeben. Einige spielten Karten, was allerdings nur an geschützten Plätzen möglich war; andere hatten ihr Steckschach aufgebaut oder lasen, und nicht wenige lagen mit nacktem Oberkörper in der Sonne.
»Wir könnten doch auch einen Skat spielen«, sagte Jöns. »Es ist gerade erst halb elf und der Tag noch lang.« »Okay!« Ruhnke stand auf. »Ich hol’ mal eben die Karten, hab’ sie unten im Gepäck.« Er verschwand.
»Ist es noch immer nicht raus, wohin es geht?« fragte Jöns.
»Man munkelt was von Oslo«, antwortete Stapelfeld, »und wenn das stimmt, sind wir noch gut zwanzig Stunden auf See. Dies ist also so etwas wie ein Ferientag.« »Oslo? Was sollen wir denn da?«
»Keine Ahnung. Vielleicht geht’s um eine SpezialÜbung: das Verschiffen von Truppeneinheiten in ein anderes NATO-Land.«
»Na, die lassen sich das ja was kosten!«
Stapelfeld wischte mit der Rechten durch die Luft. »Verglichen mit der verballerten Munition zahlen sie für diesen Trip durch die Ostsee nur ein Taschengeld.«
»Oslo …, was könnte man sich da denn mal angucken, vorausgesetzt, wir dürfen an Land?«
»Na, den Fjord zum Beispiel. Aber den können wir auch schon beim Einlaufen bewundern. Und in der Stadt gibt’s
ein paar schöne Museen.«
Die heruntergezogenen Mundwinkel des Fahnenjunkers verrieten, daß er nicht gerade auf Fjorde und Museen aus war, und seine Antwort machte es noch deutlicher: »Ich glaub’, das Schönste an Norwegen sind die Norwegerinnen, jedenfalls für uns Soldaten.«
»Man könnte ja beides …«
Was man könnte, blieb ungenannt, denn Stapelfeld wurde unterbrochen. Oberleutnant Evers trat an ihn heran und sagte: »Der Chef wünscht alle Offiziere um elf Uhr auf dem Achterdeck zu sehen.«
»Hat er vor, mit uns Gymnastik zu machen oder Faustball zu spielen, damit wir nicht einrosten?«
»Ich schätze«, antwortete Evers, »der Dienstplan für die nächsten Tage ist dran. Morgen früh um acht laufen wir in Oslo ein, und soviel ich weiß, geht es dann erstmal ab in eine Kaserne.« Er gab Stapelfeld eine Kopfnuß von mittlerer Wucht und ging weiter. »Alle haben es auf mein Haupt abgesehen! Jetzt krieg’ ich die dritte Beule.« Stapelfeld rieb sich die Stelle.
Jöns sah auf die Uhr. »Na, mit unserem Skat wird es dann wohl nichts.«
»Ein paar Runden könnten wir noch schaffen, wenn Ruhnke ein bißchen flotter wäre.« Stapelfeld drehte sich
um, sah auf die Türöffnung, über der ein Messingschild angebracht war mit der Aufschrift ZUM AUTODECK.
Um drei Minuten nach halb elf erschien der Hauptgefreite, aber nicht nur die beiden, die ihn erwarteten, hörten und sahen ihn, sondern alle an Oberdeck wurden Zeuge seines Auftritts. Er war zu hören, bevor man ihn sah. Seine martialischen Schreie drangen von der Treppe herauf, übertönten das Stampfen der Kolben und die Geräusche des Windes. Auf allen vieren war er die Treppe hochgekommen, und nun kroch er über die fast kniehohe eiserne Kante, schrie weiter, schlug um sich, als kämpfte er gegen einen Bienenschwarm. Endlich an Deck, richtete er sich auf, blieb dann aber stehen, zuckte mit dem ganzen Körper, hustete. Die Augen waren weit aufgerissen, rollten wie bei einem Fieberkranken, und das tiefrote Gesicht glänzte von Schweiß. Um seine Lippen hatte sich ein weißgelber Schaumkranz
gebildet.
Drei, vier Soldaten liefen auf den immer noch um sich schlagenden Mann zu, packten ihn an den Armen, legten ihn auf die Decksplanken, knöpften seine Uniformjacke auf und zogen ihm die Stiefel von den Füßen.
»Einen
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